Das Lied vom armen Kind von Frank Wedekind

Es war einmal ein armes Kind,
Das war auf beiden Augen blind,
Auf beiden Augen blind;
Da kam ein alter Mann daher,
Der hört auf keinem Ohre mehr,
Auf keinem Ohre mehr.
Sie zogen miteinander dann,
Das blinde Kind, der taube Mann,
Der arme, alte, taube Mann.
 
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So zogen sie vor eine Tür,
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Da kroch ein lahmes Weib herfür,
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Ein lahmes Weib herfür.
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Bei einem Automobilunglück
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Ließ sie ihr linkes Bein zurück,
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Das ganze Bein zurück.
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Nun zogen weiter alle drei,
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Das Kind, der Mann, das Weib dabei,
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Das arme, lahme Weib dabei.
 
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Ein Mägdlein zählte vierzig Jahr,
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Derweil sie stets noch Jungfrau war,
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Noch keusche Jungfrau war.
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Um sie dafür zu strafen hart,
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Schuf Gott ihr einen Knebelbart,
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Ihr einen Knebelbart.
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Sie flehte: Laßt mich mit euch gehn,
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Ihr Lieben, laßt mich mit euch gehn,
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So wird noch Heil an mir geschehn!
 
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Am Wege lag ein räudiger Hund,
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Der hatte keinen Zahn im Mund,
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Nicht einen Zahn im Mund;
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Fand er mal einen Knochen auch,
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Er bracht’ ihn nicht in seinen Bauch,
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Ihn nicht in seinen Bauch.
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Nun trabte hinter den anderen vier,
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Wiewohl es am Verenden schier,
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Das alte, räudige Hundetier.
 
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Ein Dichter lebt’ in tiefster Not,
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Er starb den ewigen Hungertod,
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Den ewigen Hungertod.
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Mit Herzblut schrieb er sein Gedicht,
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Man druckt es nicht, man liest es nicht,
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Und niemand kennt es nicht.
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Sein Leib war krank, sein Geist war wund,
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Drum schloß er mit dem räudigen Hund
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Der Freundschaft heiligen Seelenbund.
 
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Und dann schrieb er zu Aller Glück
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Ein wundervolles Theaterstück,
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Ein wundervolles Stück,
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In welchem die Personen sind
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Der taube Mann, das blinde Kind,
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Das arme, blinde Kind,
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Das lahme Weib, die Jungfrau zart
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Mit ihrem langen Knebelbart,
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Die Jungfrau mit dem Knebelbart.
 
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Und eh’ die nächste Stund’ entflohn,
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Konnt’ Jeder seine Rolle schon,
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Die ganze Rolle schon.
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Verständnisvoll führt die Regie
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Das alte, räudige Hundevieh,
60 
Das räudige Hundevieh.
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Drauf ward das Schauspiel zensuriert
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Und einstudiert und aufgeführt
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Und ward ganz prachtvoll kritisiert.
 
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Die Künstler fanden viel Applaus,
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Man spannt dem Hund die Pferde aus
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Und zieht ihn selbst nach Haus.
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Da gab’s nun auch Tantièmen viel
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Und hohe Gagen für das Spiel,
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Das ungemein gefiel. –
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Nachdem sie ganz Europa sah,
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Da reisten sie nach Amerika,
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Nach Nord- und Südamerika.
 
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Nun hört zum Schluß noch die Moral:
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Gebrechen sind oft sehr fatal,
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Sind manchmal eine Qual;
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Frau Poesie schafft ohne Graus
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Beneidenswertes Glück daraus,
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Sie schafft das Glück daraus.
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Dann schwillt der Mut, dann schwillt der Bauch,
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Und sei’s bei einer Jungfrau auch. –
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So ist’s der Menschheit guter Brauch.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „Das Lied vom armen Kind“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
81
Anzahl Wörter
427
Entstehungsjahr
1905
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das in der Analyse behandelte Gedicht ist „Das Lied vom armen Kind“ von Frank Wedekind, einem dramatischen Dichter und Schauspieler, der seine wichtigsten Werke in der Zeit des Naturalismus und der Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert verfasste.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine märchenhafte Erzählung mit verschiedenen Charakteren, die ungewöhnlich kombiniert werden. Das Gedicht erzählt die Geschichte eines blinden Kindes, eines tauben Mannes, einer lahmen Frau, einer unverheirateten alternden Jungfrau, eines zahnlosen räudigen Hundes und eines hungernden Dichters. Diese sechs Charaktere, trotz ihrer Gebrechen und Schwächen, bilden eine Reisegruppe und landen schlussendlich als Protagonisten in einem Theaterstück, das vom Dichter geschrieben wurde. Durch das Stück erlangen sie Bekanntheit und Reichtum und die Anerkennung der Gesellschaft, die sie vorher verachtet hatte.

Die zentrale Botschaft des Gedichts scheint eine Herausforderung gegenüber gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu sein. Es präsentiert Menschen mit Gebrechen nicht als Mitleidsobjekte, sondern als die wahren Helden ihrer eigenen Geschichten. Es zeigt auch die transformative Kraft der Kunst und Kreativität und kritisiert indirekt die Oberflächlichkeit der Gesellschaft, die Menschen aufgrund ihrer physischen Gebrechen oder gesellschaftlichen Positionen ablehnt, aber bereit ist, sie auf der Bühne zu feiern.

Das Gedicht ist in Form einer Ballade verfasst mit stets wiederkehrenden Versen am Ende jeder Strophe, was dem Gedicht einen refreinartigen Charakter verleiht. Die Sprache ist einfach und direkt mit klaren, bildhaften Beschreibungen, die die Charaktere und ihre Umstände lebendig machen. Die wiederholte Verwendung von Wiederholungen und Antithesen (z.B. „armes Kind, tauber Mann“, „lahmes Weib, zahnloser Hund“) verdeutlicht die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Charakteren und betont ihre jeweiligen Makel und Gebrechen.

Insgesamt ist „Das Lied vom armen Kind“ ein Gedicht, das menschliche Schwächen und Gebrechen in den Vordergrund rückt und dennoch die Fähigkeit des Menschen hervorhebt, sich über seine Begrenzungen zu erheben. Es ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Mitgefühl und eine scharfe Kritik an den Oberflächlichkeiten der Gesellschaft.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Lied vom armen Kind“ des Autors Frank Wedekind. 1864 wurde Wedekind in Hannover geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1905 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Wedekind handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 427 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 81 Versen. Die Gedichte „Alte Liebe“, „Altes Lied“ und „Am Scheidewege“ sind weitere Werke des Autors Frank Wedekind. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Lied vom armen Kind“ weitere 114 Gedichte vor.

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