Felix und Galathea von Frank Wedekind

Fragment
Präludium
 
oder wie ein schönes Lied in einer schönen Situation
entstanden ist
 
Es graut der Morgen und die Sterne sinken,
Bis alle in der kalten Flut ertrinken.
Die große Sonne majestätisch brennt
Schon feuerrot am fernen Firmament.
Kalliope, die schönste der neun Musen,
10 
Erhebt sich in der goldnen Strahlen Schein
11 
Von ihrem Lager, und ihr stolzer Busen
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Saugt lechzend frische Morgendüfte ein.
13 
Noch ganz entkleidet, ohne mit den Reizen
14 
Der hohen göttlichen Gestalt zu geizen,
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Tritt sie hinaus ins Freie der Natur.
16 
Aus ihren großen, dunkelblauen Augen sprühen
17 
Schon wieder neue, wunderbare Phantasien,
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Und ihr Gedanke folgt der irren Spur
19 
Der teuren Helden, die sie zu besingen
20 
Die straffgespannten Saiten läßt erklingen.
21 
Des Waldes dunkle Kühle nimmt sie auf,
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Und folgend eines Baches klarem Lauf
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Gelangt sie rasch mit zielbewußtem Schritte
24 
In ihres Reiches unwegsame Mitte.
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Hier läßt sie sich auf einen Baumstumpf nieder.
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Im weiten Umkreis herrscht das tiefste Schweigen
27 
Bis auf ein Wispern in den höchsten Zweigen,
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Bis auf ein Felsenecho ihrer Lieder.
29 
Die Strahlen schießen senkrecht nun herunter,
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Die ganze Schöpfung, eben noch so munter,
31 
Erschlafft im Zittern ausgestoßner Gluten.
32 
Kalliope tritt an des Baches Rand,
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Sie legt die goldne Laute aus der Hand,
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Sie steigt hinab in die kristallnen Fluten.
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Die Wasser kommen zögernd angezogen,
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Sie läßt von ihnen sich das Haar zerwühlen,
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Die volle Brust, den weißen Leib bespülen,
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Glückatmend treibt sie auf den kalten Wogen.
39 
Sie dichtet summend eine Melodie,
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Gedanken haben Fleisch und Blut erhalten,
41 
Als Menschenkinder wandeln die Gestalten
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Vorbei an ihrer klaren Phantasie.
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Im schönen Land Italien weilt ihr Sinn,
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Ihr Herz verschwendet seine reichsten Gaben.
45 
Sie singt von Felix, einem Hirtenknaben,
46 
Von Galathea einer Schäferin.
 
47 
Chor der Alten
 
48 
Majestätisch und mit Schweigen
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Treten leise wir hervor,
50 
Rufend, aufgestellt im Reigen:
51 
Galathea, sieh dich vor!
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Hör uns alte Greise an,
53 
Die wir in der Zukunft lesen,
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Was schon öfter dagewesen
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Und auch dir passieren kann.
56 
Siehst du jenen bleichen Knaben
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Hinter seinen Schafen traben?
58 
Galathea, siehst du nicht,
59 
Daß er mit sich selber spricht?
60 
Mit der Zunge, wie vor Hitze,
61 
Leckt er sich die Nasenspitze.
62 
Felix nennt der Knabe sich;
63 
Galathea, hüte dich!
64 
Sieh, er schmiedet seine Pläne,
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Kommt dann in dem Kleid des Schafes,
66 
Stört die Ruhe deines Schlafes,
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Plötzlich weist er dir die Zähne
68 
Und bevor du ihm entflohn,
69 
Beißt er dir die Kehle schon.
70 
Drauf packt er dich bei den Händen,
71 
Um sein Mordwerk zu vollenden;
72 
Deine Glieder strampeln noch,
73 
Aber er bekommt dich doch.
74 
Plötzlich fühlst du aus den Knien
75 
Alle Kraft von hinnen ziehen,
76 
Deine Muskeln werden schwach,
77 
Du beschränkst dich auf ein Ach.
78 
Er indes wird immer toller,
79 
Seine Miene sorgenvoller;
80 
Dabei brüllt er wie ein Leu,
81 
Weil ihm das Gefühl noch neu.
82 
Dich jedoch packt erst ein Schlucken,
83 
Dann ein Zittern, dann ein Zucken,
84 
Und dann wird dir so gewaltig,
85 
Wie du's nie an dir erprobt.
86 
Und du küßt ihn mannigfaltig,
87 
Daß er's nur nicht lassen wolle,
88 
Bis sich der erwartungsvolle
89 
Jubel in dir ausgetobt.
90 
Das ist so in großen Zügen
91 
Das gefährliche Vergnügen,
92 
Dran der bleiche Knabe denkt,
93 
Wenn er seine Schafe tränkt.
94 
Du kannst freilich nicht begreifen,
95 
Welche Pläne in ihm reifen,
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Denn noch bist du nicht gerissen
97 
Aus dem Traume deiner Kindheit,
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Aus der Ruhe deiner Blindheit
99 
Durch ein unheilvolles Wissen.
100 
Doch er wird die Heißbegehrte
101 
Lehren, was das Schätzenswerte
102 
Hier auf Erden und wozu
103 
Er nicht auch so dumm wie du.
 
104 
Zwiegespräch
 
105 
zwischen Felix, dem Schäfer,
106 
und Galathea, der Schäferin
 
107 
FELIX:
108 
Galathea, wie lange schon
109 
Hab ich dich nun gebeten!
110 
Galathea, nur kalter Hohn
111 
War die Antwort auf all mein Flöten,
112 
Auf mein Trompeten, auf mein Schalmein,
113 
Auf meine entzückenden Weisen!
114 
Oh, Mädchen, du hast ein Herz von Stein
115 
Und eine Tugend von Eisen!
 
116 
GALATHEA:
117 
Mein lieber Felix, was bist du nur
118 
So traurig im schönsten Lenze?
119 
Komm mit mir hinaus auf die Blumenflur,
120 
Da schwellen die üppigsten Kränze.
121 
Sieh, wie die Vögel so zärtlich tun,
122 
Wie die Hunde so selig schlafen.
123 
Sieh, wie so friedlich im Grase ruhn
124 
Die Böcke bei unsern Schafen.
 
125 
FELIX:
126 
Oh, Galathea, die Böcke sind satt,
127 
Die Schafe in Rührung zerflossen.
128 
Von meinen Empfindungen aber hat
129 
Sich keine den deinen erschlossen.
130 
Es brodelt in mir wie in einem Vulkan,
131 
Ich muß mich beständig kratzen;
132 
Und wird mir nicht bald Genüge getan,
133 
Dann werde ich nächstens zerplatzen.
 
134 
GALATHEA:
135 
Ach, Felix, wir leben im Monat August,
136 
Da schwitzt man begreiflicherweise;
137 
Und wenn du dich überdies kratzen mußt,
138 
Dann hast du wahrscheinlich Läuse.
139 
Sieh nur, welch reizenden Kranz ich hier
140 
Aus Himmelsschlüsseln gewunden!
141 
Kränz ich damit deine Locken dir,
142 
Dann ist alles Jucken verschwunden.
 
143 
FELIX:
144 
Es handelt sich nicht um das Jucken der Haut;
145 
Das würd ich wohl schwerlich noch spüren!
146 
Oh, Galathea, sei meine Braut;
147 
Du hast keine Zeit zu verlieren.
148 
An deinem letzten harmlosen Schrei
149 
Möcht ich so gerne mich freuen.
150 
Du findest ja auch deine Rechnung dabei,
151 
Du wirst es gewiß nicht bereuen.
 
152 
GALATHEA:
153 
Oh, Felix, ich habe, solang ich weiß,
154 
Noch nie eine Rechnung gefunden;
155 
Doch wird auch mir jetzt auf einmal so heiß,
156 
Und meine Ruh ist verschwunden.
157 
Auch spür ich ein Jucken, so sonderbar,
158 
Wo, läßt sich genau nicht entscheiden.
159 
Ich glaube, daß welche aus deinem Haar
160 
In meinen Locken schon weiden.
 
161 
FELIX:
162 
Bleib endlich mit deinen Läusen fort!
163 
D willst mich gar nicht verstehen!
164 
Dich freut es, mir jedes gefühlvolle Wort
165 
Im Munde herum zu drehen.
166 
Dir fehlen, scheint mir, am Schädel herum
167 
Die allernötigsten Schrauben.
168 
Oh, Mädchen, bist du denn wirklich so dumm,
169 
Wie deinem Gesicht nach zu glauben?
 
170 
GALATHEA:
171 
Ich bin nicht dümmer, als Gott mich schuf.
172 
Ich danke dem Himmel deswegen.
173 
Es ist nicht so einfach, mit dem Vesuv
174 
Eine Unterhaltung zu pflegen.
175 
Du sprichst so verworren, so unbestimmt;
176 
Ich bin nicht klug draus geworden
177 
Man fürchtet, wenn man es wörtlich nimmt,
178 
Du wolltest einen ermorden.
 
179 
FELIX:
180 
Oh, Galathea, spotte nicht mein,
181 
Und sei mir nicht böse, du Süße,
182 
Denn meine Gefühle sind ebenso rein
183 
Wie deine zwei lieblichen Füße.
184 
Ich suche mein Himmelreich und mein Glück,
185 
Den Wahnfried all meiner Sorgen.
186 
Nur fehlt mir dazu das nöt'ge Geschick;
187 
Ich find es vielleicht erst morgen.
 
188 
GALATHEA:
189 
Oh, Felix, wüßt ich, wohin nur gleich
190 
Sich deine Blicke verkriechen!
191 
Auch wirst du auf einmal so kreidebleich
192 
Und fängst so stark an zu riechen.
193 
Das ist doch ein seltsam entsetzlicher Brauch,
194 
Dein Bild ist gänzlich verschwommen.
195 
Hei-hei-hei-hei-heiratest du mich denn auch,
196 
Wenn ich in die Wochen gekommen?
 
197 
FELIX:
198 
Galathea, jetzt wird mir die Welt zu eng.
199 
Ich hab die Besinnung verloren.
200 
Mir donnert dein Schneng-tege-tege-teng-teng-teng
201 
Wie höllischer Spott in den Ohren.
202 
Du selber trägst die Verantwortlichkeit
203 
Für die Wirkungen deiner Partien.
204 
Der Übelstand, welcher nach Abhilfe schreit,
205 
Ist längst aufs höchste gediehen.
 
206 
GALATHEA:
207 
Oh, Fe-, oh, Felix, oh, Felix, oh, Fe-,
208 
Oh, Felix, ist dir auch behaglich?
209 
Wenn ich deine zornigen Blicke seh,
210 
Scheint mir dein Vergnügen sehr fraglich.
211 
Nicht herrlicher denk ich es mir, wenn ich
212 
Das ewige Leben erwerbe;
213 
Doch deine Grimassen sind fürchterlich,
214 
Du machst mich tot, ich sterbe.
 
215 
Chor der Nymphen
 
216 
Seit Jahrtausenden
217 
Weilen wir hier
218 
An diesem Teiche.
219 
Immer das gleiche
220 
Schauen wir.
221 
Verlockende Worte
222 
Von Lust und Freuden
223 
Führten die Menschen
224 
Zu allen Zeiten
225 
Zu diesem Orte.
226 
Die römischen Frauen
227 
Wo sind sie geblieben?
228 
Wir sehn sie nicht mehr.
229 
Hier kamen sie her,
230 
Um in den lauen
231 
Fluten zu lieben.
 
232 
Auch unsre Genossen
233 
Dem Himmel entsprossen,
234 
Die Oreaden
235 
In Busch und Bäumen
236 
Sie pflegten zu baden
237 
Hier und zu träumen.
238 
Die zottigen Faune,
239 
Mit denen wir liebten,
240 
Im Jagen uns übten
241 
In wilder Laune.
242 
Sie alle schwebten,
243 
Die einst hier lebten,
244 
Zum Himmel wieder,
245 
Aus diesen Triften
246 
Empor zu den Lüften,
247 
Zu ihrem Gebieter.
 
248 
Chor der Nixen
 
249 
Ihr glücklichen Kinder
250 
Schlürft das Vergnügen;
251 
Bald wird es versiegen;
252 
Ein langer Winter
253 
Rafft es dahin.
254 
Euer Sinn
255 
Schaut nicht vorwärts,
256 
Schaut nicht zurück.
257 
Vergängliches küßt ihr,
258 
Sorglos genießt ihr
259 
Den Augenblick.
 
260 
Wir können nicht lieben;
261 
Von Wind und Wellen
262 
Umhergetrieben,
263 
Bis wir zerschellen,
264 
Ward uns als Leben
265 
Nicht mehr gegeben
266 
Als euch im Traum.
267 
Wunschlos entstehen wir,
268 
Wunschlos vergehen wir
269 
Wieder zu Schaum.
 
270 
Zwiegesang
 
271 
zwischen Felix, dem Schäfer,
272 
und Galathea, der Schäferin
 
273 
FELIX:
274 
In dem wundervollen Morgensonnenschein,
275 
Galathea, ach wie bist du hold!
276 
Deine Schwanenbrust erstrahlt wie Elfenbein,
277 
Deine Locken schimmern wie das Gold!
278 
Freudig darf ich deinen Leib umschlungen halten,
279 
Auf den Knien einen strammen Jungen halten!
280 
Und in deinen Marmorarmen selig sein,
281 
Ohne daß uns drob der Himmel grollt.
 
282 
GALATHEA:
283 
In der wundervollen frischen Morgenluft
284 
Hab ich meinen Felix innig lieb.
285 
Aus den Wiesen strömt ein holder Blumenduft.
286 
Und bisweilen macht ein Vogel »piep«.
287 
Wolln wir uns nicht unter eine Hecke strecken
288 
Und zur Unterhaltung eine Schnecke necken?
289 
Bis zu neuen Taten uns der Kuckuck ruft,
290 
Wenn zu tun uns noch was übrigblieb.
 
291 
FELIX:
292 
Und der wundervolle Morgensonnenglanz,
293 
Galathea, macht dich doppelt süß.
294 
Dir zu Häupten fliegt ein bunter Schwalbenschwanz,
295 
Und ein Brummer fliegt dir um die Füß.
296 
Und ich darf dir deine goldnen Locken küssen,
297 
Ohne daß wir in der Stube hocken müssen.
298 
Deine Gegenwart genieß ich voll und ganz,
299 
Die Vergangenheit erscheint mir mies.
 
300 
GALATHEA:
301 
In dem wundervollen frischen Morgenhauch
302 
Kommst du, Felix, wie ein junger Gott.
303 
Deine Lippen atmen keinen Tabaksrauch,
304 
Deine Beine hebst du flink und flott.
305 
Willst du nicht noch mal nach deiner Flöte greifen
306 
Und ein hübsches Liebeslied von Goethe pfeifen?
307 
Das bleibt doch in Ewigkeit der schönste Brauch,
308 
Leugnen kann es nur ein Hottentott.
309 
FELIX und GALATHEA:
310 
Und so sagen wir denn bis zum nächsten Jahr
311 
Euch, ihr lieben Freunde, gute Nacht,
312 
Hoffend, daß es kein zu großer Blödsinn war;
313 
Uns auf jeden Fall hat's Spaß gemacht.
314 
Deshalb wolln wir auch nur recht viel Leute haben,
315 
Die an Kunstgenüssen sich wie heute laben.
316 
Dann gedeihen alle Künste wunderbar,
317 
Bis der Weltenbau zusammenkracht.
 
318 
Finale
 
319 
Es streicht durch die Wälder ein kalter Wind,
320 
Die Blätter fallen herab.
321 
Und Galathea, das süße Kind,
322 
Ich legte sie eben ins Grab.
 
323 
Still deckt ich sie zu und weinte nicht;
324 
Sie war noch immer so schön.
325 
Ich küßte ihr holdes Angesicht
326 
Auf baldiges Wiedersehn.

Details zum Gedicht „Felix und Galathea“

Anzahl Strophen
34
Anzahl Verse
326
Anzahl Wörter
1651
Entstehungsjahr
1864 - 1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Felix und Galathea“ des Autors Frank Wedekind. Im Jahr 1864 wurde Wedekind in Hannover geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1880 bis 1918 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Wedekind ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 326 Versen mit insgesamt 34 Strophen und umfasst dabei 1651 Worte. Der Dichter Frank Wedekind ist auch der Autor für Gedichte wie „Am Scheidewege“, „An Berta Maria, Typus Gräfin Potocka“ und „An Bruno“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Felix und Galathea“ weitere 114 Gedichte vor.

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