Der blinde König von Ludwig Uhland

Was steht der nord'schen Fechter Schar
hoch auf des Meeres Bord?
Was will in seinem grauen Haar
der blinde König dort?
 
Er ruft, in bittrem Harme
auf seinen Stab gelehnt,
daß überm Meeresarme
das Eiland widertönt:
 
"Gib Räuber, aus dem Felsverlies
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die Tochter mir zurück!
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Ihr Harfenspiel, ihr Lied so süß
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war meines Alters Glück.
 
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Vom Tanz auf grünem Strande
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hast du sie weggeraubt;
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dir ist es ewig Schande,
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mir beugts das graue Haupt."
 
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Da tritt aus seiner Kluft hervor
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der Räuber groß und wild,
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er schwingt sein Hünenschwert empo
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und schlägt an seinen Schild:
 
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"Du hast ja viele Wächter,
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warum denn litten's die?
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Dir dient so mancher Fechter,
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und keiner kämpft um sie?"
 
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Noch stehn die Fechter alle stumm,
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tritt keiner aus den Reihn,
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der blinde König kehrt sich um:
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"Bin ich denn ganz allein?"
 
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Da faßt des Vaters Rechte
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sein junger Sohn so warm:
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"Vergönn mir's daß ich fechte!
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Wohl fühl ich Kraft im Arm."
 
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"Oh Sohn, der Feind ist riesenstark,
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ihm hielt noch keiner stand;
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und doch in dir ist edles Mark,
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ich fühl's am Druck der Hand.
 
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Nimm hier die alte Klinge!
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Sie ist der Skalden Preis.
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Und fällst du, so verschlinge
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die Flut mich armen Greis!"
 
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Und horch! es schäumet und es rauscht
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der Nachen übers Meer;
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der blinde König steht und lauscht,
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und alles schweigt umher,
 
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bis drüben sich erhoben
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der Schild und Schwerter Schall
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und Kampfgeschrei und Toben
48 
und dumpfer Widerhall.
 
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Da ruft der Greis so freudig bang:
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"Sagt an, was ihr erschaut!
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Mein Schwert, ich kenn's am guten Klang,
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es gab so scharfen Laut."
 
53 
"Der Räuber ist gefallen,
54 
er hat den blut'gen Lohn.
55 
Heil dir, du Held vor allen,
56 
du starker Königssohn!"
 
57 
Und wieder wird es still umher,
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der König steht und lauscht:
59 
"Was hör' ich kommen übers Meer?
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Es rudert und es rauscht."
 
61 
"Sie kommen angefahren,
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dein Sohn mit Schwert und Schild,
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in sonnenhellen Haaren
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dein Töchterlein Gunild."
 
65 
"Willkommen!" ruft vom hohen Stein
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der blinde Greis hinab,
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"nun wird mein Alter wonnig sein
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und ehrenvoll mein Grab.
 
69 
Du legst mir, Sohn, zur Seite
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das Schwert von gutem Klang,
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Gunilde, du befreite
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singst mir den Grabgesang."
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.6 KB)

Details zum Gedicht „Der blinde König“

Anzahl Strophen
18
Anzahl Verse
72
Anzahl Wörter
354
Entstehungsjahr
1787 - 1862
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der blinde König“ wurde von Ludwig Uhland geschrieben, einem deutschen Dichter und Literaturwissenschaftler, der von 1787 bis 1862 lebte. Es passt in die Epoche der Romantik, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte.

Auf den ersten Blick ist ein markantes Merkmal dieses Gedichts seine Erzähleigenschaft. Es offenbart eine vollständige Geschichte mit Entwicklung und Auflösung, in der die Rollen aller beteiligten Charaktere deutlich werden.

Die Hauptfigur des Gedichts ist der blinde König und seine Beziehung zu seinen Kindern. Es erzählt die Geschichte eines blinden Königs, dessen Tochter von einem Räuber entführt wurde. Trotz der vielen Krieger, die er hat, kämpft niemand um sie. Enttäuscht und verärgert wendet sich der König ab, fragt sich, ob er allein ist, und es ist sein junger Sohn, der aufsteht, um seine Schwester zu retten. Der König gibt seinem Sohn sein Schwert und bittet ihn, den Räuber zu töten, und wenn er fällt, bittet er das Meer, ihn auch zu nehmen. Am Ende siegt der Sohn, und beide Kinder kehren zu ihrem Vater zurück.

Das Gedicht stellt dar, wie der blind König trotz seiner Blindheit und des Alters bereit ist, alles zu riskieren, um seine Familie zu beschützen und seine Ehre zu wahren. Es stellt die Ideale der Romantikperiode dar und hebt die Werte von Mut, Ehre und Liebe zur Familie hervor.

Das Gedicht, das in Reimform geschrieben ist, besteht aus vier Versen pro Strophe und insgesamt 18 Strophen. Die langen Zeilen verleihen zusammen mit der Anzahl an Strophe dem Gedicht eine epische Atmosphäre, die auch das nordische Thema des Gedichtes unterstreicht. Die Sprache ist einfach und unprätentiös, dennoch ist die Leidenschaft und Intensität der Handlung deutlich spürbar.

Insgesamt, vermittelt Ludwig Uhland in diesem Gedicht die Dauerhaftigkeit von Familienbanden, den Wert von Ehre und Mut und die Rolle von Charakter und Willensstärke in der Bewältigung von Widrigkeiten. Dabei bedient er sich einer einfachen, aber eindrucksvollen Sprache und schafft es, eine komplexe Handlung und tiefgehende Charakterisierungen in dieses kurze Gedicht zu packen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der blinde König“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Ludwig Uhland. Geboren wurde Uhland im Jahr 1787 in Tübingen. Im Zeitraum zwischen 1803 und 1862 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Bei Uhland handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein dauerte die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik an. Ihre Auswirkungen waren in der Literatur, der Kunst aber auch der Musik und Philosophie spürbar. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Welt, die sich durch die beginnende Industrialisierung und Verstädterung mehr und mehr veränderte, verunsicherte die Menschen. Die Französische Revolution in den Jahren 1789 bis 1799 hatte ebenfalls bedeutende Auswirkungen auf die Romantik. Weltflucht, Hinwendung zur Natur, Verklärung des Mittelalters (damalige Kunst und Architektur wurde nun wieder geschätzt), Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Betonung des Individuums und romantische Ironie sind typische Merkmale der Romantik. Die Themen der Romantik zeigen sich in verschiedenen Motiven und Symbolen. So gilt beispielsweise die Blaue Blume als das zentrale Motiv der romantischen Literatur. Sie symbolisiert Liebe und Sehnsucht und verbindet Natur, Mensch und Geist. Die Nacht hat ebenfalls eine besondere Bedeutung in der Romantik. Sie ist der Schauplatz für viele weitere Motive dieser Epoche: Tod, Vergänglichkeit und nicht alltägliche, obskure Phänomene. Im ebenfalls in dieser Epoche zu findenden Spiegelmotiv zeigt sich die Hinwendung der Romantik zum Unheimlichen. Die äußere Form von romantischer Dichtung ist völlig offen. Kein festgesetztes Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen der Werke wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das Gedicht besteht aus 72 Versen mit insgesamt 18 Strophen und umfasst dabei 354 Worte. Die Gedichte „Die Ulme zu Hirsau“, „Das alte, gute Recht“ und „Am 18. Oktober 1816“ sind weitere Werke des Autors Ludwig Uhland. Zum Autor des Gedichtes „Der blinde König“ haben wir auf abi-pur.de weitere 57 Gedichte veröffentlicht.

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Zum Autor Ludwig Uhland sind auf abi-pur.de 57 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.