Der Eiersegen von Heinrich Seidel

Im Sommer war's, vor langer Zeit,
Da trat mit weissbestaubtem Kleid
Ein Wanderbursche müd genug
Einst zu Semlin in einen Krug.
Doch Niemand war in dieser Schenke,
Zu reichen Speisen und Getränke
Nur Fliegen, die vom Tisch aufsummten,
Und Brummer, die am Fenster brummten.
Die Sonne kam hereingeflossen
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Und malte still die Fenstersprossen
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Hin auf den sandbestreuten Grund.
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Es regte sich kein Mensch, kein Hund;
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Es waren ganz für sich allein
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Die Fliegen und der Sonnenschein.
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Der Wanderer auf die Bank sich streckte,
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Und seine müden Glieder reckte,
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Und dacht': "Die Ruhe soll mir frommen!
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Am Ende wird schon Jemand kommen!"
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Und als er nun so um sich sah,
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Fand er ein Häufchen Krumen da,
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Das man vom Tisch zusammenfegte,
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Und, da der Hunger sehr sich regte,
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Begann er eifrig unterdessen
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Von diesen Krümlein Brods zu essen.
 
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Dem guten Burschen war nicht kund,
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Dass sich auf Hexerei verstundt
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Des Krügers Frau. Sie wollte eben
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Die Krümchen Ihren Hühnern geben,
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Und da Sie abgerufen ward,
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Sprach sie darob nach Hexenart,
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Bevor sie ging, den Eiersegen,
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Wonach die Hühner mächtig legen.
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Und als der Bursche also nippte
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Und mit den Fingern Krumen tippte,
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Da ward ihm gar so wunderlich
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Im Leibe, so absunderlich.
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Bis dass auf einmal wundersam
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Der Zauberspruch zur Wirkung kam.
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Er fühlte sich, als wie besessen.
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Und so viel Krumen er gegessen,
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So viele Eier musst' er legen!
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Das wirkte dieser Hexensegen!
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Er mochte wollen oder nicht,
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Das war das Ende der Geschicht:
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Er legte einunddreissig Eier,
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Und darnach fühlte er sich freier.
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Dann ward ihm so mirakelig,
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So kikelig, so kakelig.
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Und ehe er sich recht besann,
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Da fängt er auch das Kakeln an!
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Er konnte diesen Trieb nicht zügeln,
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Schlug mit dem Armen wie mit Flügeln,
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Ging um die Eier in die Runde
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Und scharrte kräftig auf dem Grunde
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Und kakelte so furchtbarlich,
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Das Alles rings entsatzte sich:
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Zusammen lief Weib, Kind und Mann
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Und schauten das Mirakel an,
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Doch endlich liess der Zauber nach;
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Dem armen Burschen war ganz schwach.
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Er fühlte ganz elendiglich
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Sich aussen und inwendiglich,
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Und musste stärken sein Gebein
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Mit Käse, Brot und Branntewein!
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Liess sich den Stock herüberlangen
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Und ist beschämt davon gegangen.
 
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Nach langer Zeit, in späten Jahren,
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Hab' ich's aus seinem Mund erfahren,
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Da hat er oftmals mir erzählt,
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Wie ihn das Hühnerbrod gequält,
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Und wie das Ding sich zugetragen.
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Zum Schlusse pflegte er zu sagen:
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"Das Legen, das ist leicht gethan!
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Das Kakeln aber, das greift an!"
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Der Eiersegen“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
74
Anzahl Wörter
409
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Eiersegen“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, der von 1842 bis 1906 lebte. Seine Schaffenszeit lag damit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauer im Zeitalter des Realismus.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine humorvolle Erzählung. Es handelt von einem Wanderburschen, der in einer Gaststätte ankommt, in der niemand ist. Er ist müde und hungrig und findet schließlich ein Häufchen Brotkrumen, das er beginnt zu essen.

Unbekannterweise waren dieses Krümel von der Gastwirtin verzaubert worden, damit ihre Hühner mehr Eier legen. Durch das Essen der Brotkrümel kommt der Wanderer in den Effekt des Zaubers und beginnt, Eier zu legen und wie ein Huhn zu gackern. Nachdem der Zauber nachlässt, fühlt er sich erschöpft und macht sich beschämt auf den Weg.

Der Wanderbursche, dessen Perspektive das lyrische Ich einnimmt, scheint bemerken zu wollen, dass es nicht immer eine gute Idee ist, von etwas zu essen, das man nicht kennt. Auch könnte die Geschichte eine mahnende Moral vermitteln, nämlich dass Gier und Ungeduld unerwartete Konsequenzen haben können.

Das Gedicht ist in Reimform geschrieben, genauer in einem durchgehenden Paarreim. Die Sprache ist relativ einfach und bildhaft, und die Strophen und Verse folgen einem klar strukturierten Aufbau. Der Ton ist erzählerisch und zeitweise humorvoll, was durch die surrealen Ereignisse und die ironische Abschlussbemerkung des Wanderburschen unterstrichen wird.

Thematisch spielt das Gedicht mit traditionellen Volksmärchen und Sagen. Die Figur des Wanderburschen, der auf seiner Reise in eine übernatürliche Situation gerät, ist ein typisches Motiv solcher Erzählungen. Auch die Hexerei der Gastwirtin passt in dieses Bild. Der absurde Humor und der leichte Ton setzen das Gedicht jedoch von traditionellen Märchen ab und geben ihm eine moderne, unterhaltsame Note.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der Eiersegen“ ist Heinrich Seidel. 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. In der Zeit von 1858 bis 1906 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 409 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 74 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Der Dichter Heinrich Seidel ist auch der Autor für Gedichte wie „Arbeit ist das Zauberwort“, „Die schönen Bäume“ und „Meine Puppe kriegst du nicht!“. Zum Autor des Gedichtes „Der Eiersegen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 216 Gedichte vor.

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