Die Gaben von Heinrich Seidel

Es war ein Pastor, wer weiß wo?
Der predigte nur leeres Stroh,
und manche Klage war geschehn.
Ihn selbst zu hören und zu sehn,
beschloß der Superintendent.
Und als die Predigt war zu End,
da mußte er bedauernd sagen:
Die Leute haben recht, zu klagen.
Wie bring' ich ihm das glimpflich bei,
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daß ihm das nicht zu schimpflich sei?
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Und darum fing der gute Mann
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ganz heimlich und verloren an:
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"Ich hörte sie und war ganz Ohr.
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Doch, wie bereiten sie sich vor,
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mein lieber Bruder, möcht ich wissen?"
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Und jener drauf: "Das kann ich missen!
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So mancher druckt und sinnt und schreibt
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ich rede, wie der Geist nicht treibt!"
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"Ei, ei, was sind mir das für Sachen!
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So könnt' ich das fürwahr nicht machen!"
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Sprach nun der Superintendent:
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"Das wäre nicht mein Element.
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Am Donnerstag schon fang ich an
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und überlege mir den Plan.
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Am Freitag wird er dann entfaltet
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und durchgeführt und ausgestaltet.
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Dann schreib ich alles sorglich auf
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und lern' es in des Samstags Lauf
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und bin dann sicher meiner Sachen
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so, denk' ich, müßt' es jeder machen!"
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Der Pastor aber schmunzelt sehr,
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als ob ihm stark geschmeichelt wär.
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"Ja, ja, das glaub' ich. Sicherlich
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kann das nicht jedermann wie ich
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das muß der Mensch so in sich haben,
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mein lieber Bruder - das sind Gaben!"
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Die Gaben“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
219
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Gaben“ stammt von Heinrich Seidel und wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst, da der Autor von 1842 bis 1906 lebte.

Beim ersten Lesen wirkt das Gedicht humorvoll und leicht satirisch. Es erzählt die Geschichte eines Pastors, dessen Predigten als inhaltslos und langweilig empfunden werden, worüber sich Beschwerden häufen. Der Superintendent, der ein höherer kirchlicher Vorgesetzter ist, beschließt, sich das selbst anzuhören und stimmt nach der Predigt den Klagen der Gemeinde zu. Er versucht, dem Pastor auf eine nicht zu beleidigende Weise zu erklären, dass seine Predigten verbessert werden müssen. Dabei erklärt der Superintendent, wie er sich gründlich auf seine Predigten vorbereitet und sie ausarbeitet. Die Reaktion des Pastors darauf ist überraschend: Anstatt die Kritik anzunehmen, schmunzelt er und meint, dass seine Art zu predigen eine spezielle Gabe sei, die nicht jeder besitzt.

Offensichtlich tauschen hier zwei vollkommen unterschiedliche Herangehensweisen an das Predigen Schlaglichter aus. Das lyrische Ich, repräsentiert durch den Superintendenten, deutet auf die Bedeutung der sorgfältigen Vorbereitung und Ausarbeitung einer Predigt hin, während der Pastor davon überzeugt ist, dass er die Gabe besitzt, spontan und ohne Vorbereitung zu sprechen. Es lässt sich vermuten, dass der Autor mit dieser Geschichte auf satirische Weise die Selbstüberschätzung und mangelnde Selbsteinsicht mancher Menschen darstellt, vielleicht sogar speziell innerhalb der Kirche.

Formal besteht das Gedicht aus einer einzigen langen Strophe mit 36 Versen. Die Sprache ist klar und einfach, mit einer erzählenden Struktur, die der Geschichte einen flüssigen Verlauf verleiht. Manche Reime sind etwas erzwungen, was den humorvollen Charakter des Gedichts noch unterstreicht. Zum Leitmotiv wird dabei das Wort „Gabe“, das am Ende eine ironische Wendung bekommt. Es ist ein eher ungewöhnliches Gedicht, da es weniger emotional oder abstrakt ist, sondern eher eine kleine Erzählung in Versform darstellt. Insgesamt bietet „Die Gaben“ einen humorvollen, leicht satirischen Blick auf die Schwierigkeiten und Unterschiede in der Ausübung geistlicher Ämter.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Gaben“ des Autors Heinrich Seidel. 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. In der Zeit von 1858 bis 1906 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das 219 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit nur einer Strophe. Heinrich Seidel ist auch der Autor für Gedichte wie „Hänschen auf der Jagd“, „Der Luftballon“ und „April“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Gaben“ weitere 216 Gedichte vor.

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