Wo wohnt das Glück? von Heinrich Seidel

Sagt mir doch, ihr flinken Schwalben,
Die ihr schweift in hohen Lüften
Ueber Wälder, Seen und Wiesen,
Die ihr kennt den ganzen Umkreis,
Südwärts auch die sonn'gen Länder,
Eure ferne Winterheimath
Sagt, ihr weitgereisten Schwalben,
Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!
 
Doch die Schwalben streifen lustig
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In den sonndurchglänzten Lüften
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Auf- und abwärts, hin und wider,
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Und sie schwingen sich und schweben
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Und sie geben mir nicht Antwort!
 
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Sagt mir doch, ihr schnellen Wolken
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In dem fernen Blau des Himmels
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Sagt - ihr wandelt vom Aequator
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Zu des fernen Poles Eisnacht
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Ueber Berge, über Meere
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Und ihr kennt die ganze Erde,
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Und ihr schaut in alle Länder
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Sagt, ihr weissen Wanderwolken,
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Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!
 
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Doch die Wolken ziehn und weben
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Heiter glänzend still vorüber,
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Baun sich auf zu Götterburgen,
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Lösen sich in Lämmerherden,
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Ewig wechseln sie das Schauspiel,
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Und sie schwinden und verwehen
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Und sie geben mir nicht Antwort!
 
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Sagt mir doch, ihr ew'gen Sterne,
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Die ihr schaut mit goldnen Augen
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In des Weltalls fernste Tiefen,
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Die ihr kennt Millionen Welten
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Sagt, ihr uralt klugen Sterne,
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Sagt mir doch, wo wohnt das Glück?!
 
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Doch die Sterne wandeln schweigend
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Durch das unermessne Weltall
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Ihren urbestimmten Pfad,
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Und sie funkeln und sie scheinen,
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Steigen auf und sinken nieder
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Und sie geben mir nicht Antwort'.
 
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Alle können es nicht sagen,
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Denn so winzig ist sein Wohnort,
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Dass sie nimmer ihn erblickten,
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Nimmer, denn es wohnt das Glöck
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Zwischen Werden und Vergehen,
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Zwischen zweien Augenblicken,
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Auf der Spitze einer Nadel!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Wo wohnt das Glück?“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
251
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das behandelte Gedicht trägt den Titel „Wo wohnt das Glück?“ und stammt vom deutschen Ingenieur und Schriftsteller Heinrich Seidel, welcher im Zeitraum von 1842 bis 1906 lebte. Sein literarisches Schaffen war stark geprägt durch den Realismus, welcher sich durch eine realistische, detailgetreue Darstellung von Alltags-und Lebenssituationen auszeichnet.

Bei der ersten Lektüre des Gedichts fällt sofort die wiederkehrende Frage „Wo wohnt das Glück?“ auf. Das lyrische Ich scheint verzweifelt auf der Suche nach dem Ort des Glücks zu sein und richtet seine Frage an verschiedene Elemente der Natur: Schwalben, Wolken und Sterne. Damit wird ein Gefühl der Sehnsucht, der Suche und der Verzweiflung vermittelt.

Inhaltlich dreht sich das Gedicht um die universelle Frage des Menschen nach dem Glück und wo es zu finden ist. Das lyrische Ich stellt diese Frage an verschiedene Teile der Natur, welche aufgrund ihres Umherziehens und ihrer Weite symbolisch für das Unbekannte und Unwegsame stehen. Jedoch erhält es von ihnen keine Antwort, was die Endlosigkeit und Schwierigkeit dieser Suche verdeutlicht.

Formal ist das Gedicht in sieben Strophen aufgeteilt, deren Versanzahl variiert. Der einfache, verständliche Sprachgebrauch sowie die Verwendung von Endreimen erleichtern das Verständnis des Textes und übermitteln gleichzeitig eine rhythmische Melodie.

Das Schlussteil des Gedichtes bietet jedoch eine überraschende Wendung: Das Glück wird als etwas sehr Kleines und Flüchtiges beschrieben, das weder von der weitgereisten Schwalbe, den wandernden Wolken noch den ewigen Sternen erblickt werden kann. Es wohnt „zwischen Werden und Vergehen, zwischen zwei Augenblicken, auf der Spitze einer Nadel“. Mit dieser Metapher drückt Seidel die Vergänglichkeit und die flüchtige Natur des Glücks aus. Darüber hinaus verdeutlicht er, dass das Glück nicht außerhalb, sondern in uns selbst zu finden ist - in den kurzen, flüchtigen Momenten des Lebens, die oft übersehen werden.

Das Gedicht lehrt uns somit, dass die Suche nach dem Glück nicht außerhalb, sondern innerhalb von uns selbst stattfinden sollte, und mahnt uns, die kleinen Glücksmomente im Leben wertzuschätzen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Wo wohnt das Glück?“ des Autors Heinrich Seidel. Geboren wurde Seidel im Jahr 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin). Im Zeitraum zwischen 1858 und 1906 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 251 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Heinrich Seidel sind „Der Zug des Todes“, „Der Tod Moltkes“ und „Wälder im Walde“. Zum Autor des Gedichtes „Wo wohnt das Glück?“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 216 Gedichte vor.

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