Auf die Form kommt es an von Heinrich Seidel

Einst zur Nachtzeit lag und schlief
Harun Raschid, der Chalif,
Und ihm träumte mancherlei.
Aber von den Träumen allen
Gab ihm einer viel zu sorgen,
Als er früh erwacht am Morgen,
Denn es waren ihm dabei
Alle Zähne ausgefallen.
 
Als der Zeichendeuter kam
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Und des Traumes Art vernommen,
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Sprach er: "Gott beschütze Dich!
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Also wird es dir ergehen:
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Die sich deines Blutes nannten,
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Deine lieben Anverwandten,
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Wirst, o Fürst, du sicherlich
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Alle vor dir sterben sehen!"
 
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Ob der bösen Deutung Art
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Wühlte sich in seinem Bart
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Der Chalif und rief in Wuth:
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"Fort, hinaus mit diesem Raben!
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Kann er nichts als Unheil krähen,
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Mag er seinen Lohn besehen:
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Hundert Streiche voll und gut
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Soll er auf die Sohlen haben!"
 
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Einen andern rief man dann.
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Dieser war ein kluger Mann.
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Und er sprach, als er gefragt:
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"Allah wolle Gnade geben,
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Langes Leben nach Gefallen
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Deinen Anverwandten allen,
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Aber dieser Traum besagt:
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Du wirst alle überleben!"
 
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Diese Deutung sagte zu,
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Und der Mann erhielt im Nu
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Hundert Golddukaten baar,
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Weil er wusste, wie man läutet.
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Denn im Grunde sagten beide
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Gleiches - nur in anderm Kleide.
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Hieran zeigt sich sonnenklar,
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Was die richt'ge Form bedeutet!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Auf die Form kommt es an“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
193
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Auf die Form kommt es an“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, der im Zeitraum von 1842 bis 1906 lebte. Seidel war ein deutscher Ingenieur und Schriftsteller und gehörte zur Epoche des Realismus.

Beim ersten Durchlesen lässt das Gedicht auf einen humoristischen und lehrreichen Charakter schließen. Die erzählende Form und der regelhafte Aufbau, mit einem häufigen Wechsel von Erzählung zu direkter Rede, ebenso wie die Lenkung der Erwartung des Lesers hin zu einer klar formulierten Schlusspointe sind charakteristisch. Zudem strahlt das Gedicht eine Art orientalische Atmosphäre aus, die durch die Nutzung von Begriffen wie „Chalif“, „Allah“, „Golddukaten“ und die Erwähnung des berühmten Harun Raschid hervorgerufen wird.

Im Gedicht erzählt Seidel eine Geschichte um Harun Raschid, den Chalifen, der einen unruhigen Traum hatte, in dem all seine Zähne ausfielen. Ein Zeichendeuter interpretiert den Traum als Unglück – alle Verwandten des Chalifen würden sterben. Ist wutentbrannt und lässt den Zeichendeuter bestrafen. Ein anderer Zeichendeuter teilt die gleiche Vorhersage mit, jedoch formuliert er sie positiv - sie bedeutet, dass der Chalif lange leben und alle seine Verwandten überleben würde. Der Chalif ist erfreut über diese Deutung und belohnt den zweiten Zeichendeuter großzügig.

Das lyrische Ich möchte hiermit ausdrücken, dass die Art und Weise, wie eine Nachricht vermittelt wird (die „Form“), oftmals wichtiger ist als die eigentliche Botschaft. Beide Deutungen bedeuten im Grunde dasselbe, doch die positive Formulierung, die Hoffnung und Langlebigkeit hervorhebt, anstatt den Tod und Verlust zu betonen, wird bevorzugt und belohnt.

In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichtes lässt sich sagen, dass das Gedicht in einem regelmäßigen Versmaß und Reim-Schema verfasst ist. Es besteht aus fünf achtzeiligen Strophen mit einem umarmenden Reim (ABBAABBA). Darüber hinaus verwendet Seidel eine einfache, unprätentiöse Sprache und Direkte Rede, die der Geschichte einen erzählerischen Charakter verleiht. Zusammen mit der präzise formulierten Moral von der Bedeutung der „richtigen Form“ trägt dies dazu bei, die Weisheit und Lektion der Geschichte zu unterstreichen und für den Leser verständlich zu machen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Auf die Form kommt es an“ des Autors Heinrich Seidel. Im Jahr 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1858 bis 1906 entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 193 Worte. Heinrich Seidel ist auch der Autor für Gedichte wie „Hänschen auf der Jagd“, „Die Gaben“ und „Der Luftballon“. Zum Autor des Gedichtes „Auf die Form kommt es an“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 216 Gedichte vor.

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