Zu einem Buch ähnlicher Art von Hugo von Hofmannsthal
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Merkt auf, merkt auf! Die Zeit ist sonderbar, |
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Und sonderbare Kinder hat sie: Uns! |
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Wer allzusehr verliebt ist in das Süße, |
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Erträgt uns nicht, denn unsre Art ist herb, |
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Und unsre Unterhaltung wunderlich. |
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»Schlagt eine kleine Bühne auf im Zimmer, |
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Denn die Haustochter will Theater spielen!« |
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Meint ihr, sie wird als kleine Muse kommen, |
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Mit offnem Haar, und in den bloßen Armen |
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Wird eine leichte goldne Leier liegen? |
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Meint ihr als Schäferin, ein weißes Lamm |
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Am blauen Seidenband und auf den Lippen |
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Ein Lächeln, süß und billig wie die Reime |
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In Schäferspielen? Auf! und geht hinaus! |
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Geht fort, ich bitt euch, wenn ihr das erwartet! |
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Ihr könnt uns nicht ertragen, wir sind anders! |
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Wir haben aus dem Leben, das wir leben, |
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Ein Spiel gemacht, und unsere Wahrheit gleitet |
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Mit unserer Komödie durcheinander |
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Wie eines Taschenspielers hohle Becher – |
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Je mehr ihr hinseht, desto mehr betrogen! |
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Wir geben kleine Fetzen unsres Selbst |
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Für Puppenkleider. Wie die wahren Worte – |
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(An denen Lächeln oder Tränen hängen |
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Gleich Tau an einem Busch mit rauhen Blättern) |
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Erschrecken müssen, wenn sie sich erkennen, |
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In dieses Spiel verflochten, halb geschminkt, |
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Halb noch sich selber gleich, und so entfremdet |
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Der großen Unschuld, die sie früher hatten! |
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Ward je ein so verworrnes Spiel gespielt? |
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Es stiehlt uns von uns selbst und ist nicht lieblich |
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Wie Tanzen oder auf dem Wasser Singen, |
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Und doch ist es das reichste an Verführung |
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Von allen Spielen, die wir Kinder wissen, |
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Wir Kinder dieser sonderbaren Zeit. |
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Was wollt ihr noch? So sind wir nun einmal, |
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Doch wollt ihr wirklich solche Dinge hören, |
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Bleibt immerhin! Wir lassen uns nicht stören. |
Details zum Gedicht „Zu einem Buch ähnlicher Art“
Hugo von Hofmannsthal
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38
264
1896
Moderne
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht stammt von dem österreichischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, der von 1874 bis 1929 lebte. Damit lässt es sich zeitlich der Epoche des Modernismus bzw. der literarischen Strömung des Symbolismus zuordnen.
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie ein theatralisches Spiel, welches sich allerdings als ernste Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und der Rolle, die wir in unserer Zeit spielen, entpuppt.
Das lyrische Ich ruft dazu auf, aufmerksam zu sein, da die Zeit „sonderbar“ ist und sonderbare „Kinder“ hervorgebracht hat. Diese „Kinder“ – also die Menschen der aktuellen Generation – werden als herb und wunderlich beschrieben. Sie distanzieren sich von traditionellen, süßen und lieblichen Rollenbildern und Inszenierungen. Die immerwährende Verwandlung und der theatralische Aspekt des eigenen Selbst wird betont. Das lyrische Ich spricht davon, „aus dem Leben, das wir leben, ein Spiel gemacht“ zu haben, in dem Wahrheit und Komödie miteinander verschwimmen.
Die formale Struktur des Gedichts ist dabei auffallend: Es besteht aus einer einzigen, langen Strophe, die den Eindruck einer fließenden Rede oder eines vehementen Monologs erzeugt. Die Sprache und Wortwahl hingegen ist gehoben und erinnert an das Theater, mit bildhaften Ausdrücken und Metaphern (z.B. „ein Spiel gemacht“, „Komödie“, „Taschenspieler“, „Puppenkleider“). Sie unterstreicht somit das zentrale Motiv des „Schein und Sein“.
Insgesamt ist das Gedicht als Aufforderung zu verstehen, die Realität in all ihren sonderbaren Facetten zu akzeptieren und sich nicht von vorgefertigten Erwartungen leiten lassen. Es ist eine mutige Abkehr von konformen, gesellschaftlichen Normen und eine Betonung der individuellen Unangepasstheit und Originalität.
Weitere Informationen
Hugo von Hofmannsthal ist der Autor des Gedichtes „Zu einem Buch ähnlicher Art“. 1874 wurde Hofmannsthal in Wien geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1896 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Hofmannsthal handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 264 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 38 Versen. Hugo von Hofmannsthal ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Kaiser von China spricht“, „Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt“ und „Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zu einem Buch ähnlicher Art“ weitere 40 Gedichte vor.
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Zum Autor Hugo von Hofmannsthal sind auf abi-pur.de 40 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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