Die tiefe Richtung von Frank Wedekind

Endlich ist der große Tag gekommen,
Schon ist das Vergangne schrecklich nah,
Doch die Zukunft ist bereits verschwommen;
Auch die Gegenwart ist nicht mehr da.
 
Gott und Mensch und Weltall sind verschwunden,
Was einst sein wird, glüht im Morgenrot;
Stille stehn die sonst so raschen Stunden,
Und gestorben ist nun auch der Tod.
 
Aus dem Nichts entwickelt sich ein Grausen,
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Eine Donnerstimme ruft: „Ich bin!“ …
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Plötzlich jagt es mit Gewittersausen
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Durch den weiten öden Raum dahin.
 
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Alles starrt beklommen rings im Kreise,
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Niemand blickt dem Andern ins Gesicht;
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Aus den Tiefen stöhnet sterbend leise
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Eine Geisterstimme: „Ich bin nicht!“ …
 
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Einem Mädchen nur aus hohem Norden
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Ist die Lösung wunderbar geglückt:
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Der Poet war Philosoph geworden
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Und der Philosoph verrückt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.5 KB)

Details zum Gedicht „Die tiefe Richtung“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
119
Entstehungsjahr
1905
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die tiefe Richtung“ wurde von Frank Wedekind verfasst, einem deutschen Dramatiker und Lyriker aus der Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bei einem ersten Lesen erweckt das Gedicht Eindrücke von rätselhaften und apokalyptischen Ereignissen.

Im Inhalt des Gedichts beschreibt das lyrische Ich eine Situation tiefgreifender Veränderung und Verunsicherung. Der „große Tag“ könnte auf ein grundsätzliches Umdenken oder einen Paradigmenwechsel hinweisen (Vers 1). Das lyrische Ich scheint sich auf einer Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zu befinden, wobei beide nicht mehr greifbar scheinen (Vers 2-4). Im zweiten und dritten Verspaar stellt das lyrische Ich fest, dass Bezugspunkte des eigenen Daseins, wie Gott, die Menschheit oder das Weltall, verschwunden sind und stirbt sogar der Tod (Vers 5-8). Dies kann als Hinweis auf fundamentale gesellschaftliche und philosophische Umwälzungen gelesen werden.

Die Donnerstimme, die sich plötzlich aus dem „Nichts“ meldet, könnte eine neue Idee oder Theorie repräsentieren, die das Verständnis der Welt revolutioniert (Vers 9-12). Die Reaktion darauf scheint allerdings Unsicherheit und Verwirrung zu sein, wie die Ausdrücke des „Beklommenseins“ und des Wortes „sterbend“ zeigen (Vers 13-16). Am Ende des Gedichts wird ironisch festgestellt, dass ein Mädchen „aus dem hohen Norden“ die Veränderung verstanden hat: Der Dichter wurde Philosoph und der Philosoph offenbar verrückt (Vers 17-20). Hier könnte das lyrische Ich das Aufeinandertreffen von Kunst und Wissenschaft und die damit verbundenen gegensätzlichen Ansichten kommentieren.

Formal besteht das Gedicht aus fünf Vierzeilern mit einem einfachen Reimschema. Die Sprache ist stark metaphernreich, was den rätselhaften und abstrakten Charakter des Gedichtsinhalts unterstreicht. Symbolträchtige Ausdrücke wie „der große Tag“ oder „der Tod ist gestorben“ regen zum Nachdenken und zur eigenen Interpretation an. Die Ironie im letzten Vers kommt überraschend und rundet das Gedicht mit einem humorvollen Seitenhieb auf die gemachte Sinnkrise ab.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Frank Wedekind in „Die tiefe Richtung“ das Aufeinandertreffen von Poesie und Philosophie in einer Zeit des Umbruchs poetisch verarbeitet. Dabei thematisiert er die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die mit solchen Epochen der Veränderung einhergehen können.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die tiefe Richtung“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Frank Wedekind. Geboren wurde Wedekind im Jahr 1864 in Hannover. 1905 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Wedekind ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 119 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 20 Versen. Frank Wedekind ist auch der Autor für Gedichte wie „Albumblatt“, „Allbesiegerin Liebe“ und „Alte Liebe“. Zum Autor des Gedichtes „Die tiefe Richtung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 114 Gedichte veröffentlicht.

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