Sturmesmythe von Nikolaus Lenau

Stumm und regungslos, in sich verschlossen
ruht die tiefe See dahin gegossen,
sendet ihren Gruß dem Strande nicht;
ihre Wellenpulse sind versunken,
ungespüret glühn die Abendfunken,
wie auf einem Totenangesicht.
 
Nicht ein Blatt am Strande wagt zu rauschen,
wie betroffen stehn die Bäume, lauschen,
ob kein Lüftchen, keine Welle wacht?
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Und die Sonne ist hinabgeschieden,
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hüllend breitet um den Todesfrieden
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Schleier nun auf Schleier stille Nacht.
 
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Plötzlich auf am Horizonte tauchen
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dunkle Wolken, die herüberhauchen
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schwer, in stürmischer Beklommenheit;
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eilig kommen sie heraufgefahren,
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haben sich in angstverworrnen Scharen
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um die stumme Schläferin gereiht.
 
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Und sie neigen sich herab und fragen:
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?Lebst Du noch?" in lauten Donnerklagen,
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und sie weinen aus ihr banges Weh.
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Zitternd leuchten sie mit scheuen Grauen
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auf das stille Bett herab und schauen
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ob die alte Mutter tot, die See.
 
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Nein, sie lebt, sie lebt, der Töchter Kummer
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hat sie aufgestört aus ihrem Schlummer,
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und sie springt vom Lager hoch empor:
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Mutter - Kinder - brausend sich umschlingen
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und sie tanzen freudewild und singen
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ihrer Lieb ein Lied im Sturmeschor.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Sturmesmythe“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
173
Entstehungsjahr
1802 - 1850
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sturmesmythe“ wurde vom österreichischen Dichter Nikolaus Lenau verfasst, der von 1802 bis 1850 lebte. Er gehört zur Epoche der Hochromantik, die sich durch große Emotionalität und oft düstere, melancholische Stimmungen kennzeichnet.

Beim ersten Lesen erzeugt das Gedicht einen Eindruck von düsterer Stille, auf die jedoch eine Bewegung und schließlich ein gewaltiges Ereignis folgt. Es beschreibt eine Küstenlandschaft, die dem Betrachter zunächst als still und fast tot erscheint. Alles scheint in sich gekehrt und regungslos zu sein - die See, die strandnahen Bäume und die Nacht. Doch dann braut sich etwas am Horizont auf: Dunkle Wolken erscheinen und es entsteht eine Spannung, die sich schließlich in einem Sturm entlädt. Aus der Ruhe ist eine dynamische, lebendige Szenerie geworden. Das lyrische Ich beschreibt dabei die Natur in einer sehr personifizierten, fast mythischen Weise, was auf die große Bedeutung hindeutet, die die Romantiker der Natur zuschrieben.

Inhaltlich geht es in dem Gedicht um das Wechselspiel von Ruhe und Bewegung, Tod und Leben. Die anfängliche Stille wirkt wie der Tod, doch dann entfaltet die See, analog zu den Wolken und dem Sturm, plötzlich eine gewaltige Lebenskraft. Es scheint, als wolle das lyrische Ich damit eine Botschaft von der Unausweichlichkeit von Veränderung und der daraus entstehenden Energie und Lebenskraft vermitteln.

Formal besteht das Gedicht aus fünf gleich gebauten Strophen mit jeweils sechs Versen. Die Sprache ist bildgewaltig und machen den Text sehr lebendig und sinnlich. Der Autor nutzt eine Vielzahl von Metaphern und personifiziert die Naturgewalten, um die Dynamik und Dramatik der Szene zu unterstreichen.

Insgesamt ist Leonardos „Sturmesmythe“ ein kraftvolles, bildreiches Gedicht, das das Lebensprinzip in der Natur hervorhebt und uns daran erinnert, dass auch in der tiefsten Stille Bewegung und Lebenskraft innewohnen. Das Gedicht kann als Metapher für eine innere Transformation des Menschen verstanden werden, in der aus scheinbarer Stille und Tod neues Leben hervorbricht. Die hohe Naturverbundenheit des lyrischen Ichs und die ausdrucksvollen Bilder machen es zu einem typischen romantischen Gedicht und lassen den Leser in eine lyrische, emotionsgeladene Seelandschaft eintauchen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Sturmesmythe“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Nikolaus Lenau. 1802 wurde Lenau in Csatád geboren. Im Zeitraum zwischen 1818 und 1850 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Biedermeier zuordnen. Lenau ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 173 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 30 Versen. Der Dichter Nikolaus Lenau ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Entfernte“, „An den Wind“ und „Schilflied“. Zum Autor des Gedichtes „Sturmesmythe“ haben wir auf abi-pur.de weitere 51 Gedichte veröffentlicht.

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