Der Gang um Mitternacht von Georg Herwegh

Ich schreite mit dem Geist der Mitternacht
Die weiten stillen Straßen auf und nieder
Wie hastig ward geweint hier und gelacht
Vor einer Stunde noch!... Nun träumt man wieder.
Die Lust ist, einer Blume gleich, verdorrt,
Die tollsten Becher hörten auf zu schäumen,
Es zog der Kummer mit der Sonne fort,
Die Welt ist müde - laßt sie, laßt sie träumen!
 
Wie all mein Haß und Groll in Scherben bricht,
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Wenn ausgerungen eines Tages Wetter,
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Der Mond ergießet sein versöhnend Licht,
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Und wär's auch über welke Rosenblätter!
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Leicht wie ein Ton, unhörbar wie ein Stern,
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Fliegt meine Seele um in diesen Räumen;
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Wie in sich selbst, versenkte sie sich gern
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In aller Menschen tiefgeheimstes Träumen!
 
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Mein Schatten schleicht mir nach wie ein Spion,
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Ich stehe still vor eines Kerkers Gitter.
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O Vaterland, dein zu getreuer Sohn,
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Er büßte seine Liebe bitter, bitter!
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Er schläft, - und fühlt er, was man ihm geraubt?
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Träumt er vielleicht von seinen Eichenbäumen?
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Träumt er sich einen Siegerkranz ums Haupt?
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O Gott der Freiheit, laß ihn weiter träumen!
 
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Gigantisch türmt sich vor mir ein Palast,
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Ich schaue durch die purpurnen Gardinen,
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Wie man im Schlaf nach einem Schwerte faßt,
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Mit sündigen, mit angstverwirrten Mienen.
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Gelb, wie die Krone, ist sein Angesicht,
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Er läßt zur Flucht sich tausend Rosse zäumen,
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Er stürzt zur Erde, und die Erde bricht
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O Gott der Rache, laß ihn weiter träumen!
 
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Das Häuschen dort am Bach - ein schmaler Raum!
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Unschuld und Hunger teilen drin das Bette.
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Doch gab der Herr dem Landmann seinen Traum,
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Daß ihn der Traum aus wachen Ängsten rette;
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Mit jedem Korn, das Morpheus' Hand entfällt,
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Sieht er ein Saatenland sich golden säumen,
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Die enge Hütte weitet sich zur Welt
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O Gott der Armut, laß die Armen träumen!
 
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Beim letzten Hause, auf der Bank von Stein,
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Will segenflehend ich noch kurz verweilen;
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Treu lieb' ich dich, mein Kind, doch nicht allein,
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Du wirst mich ewig mit der Freiheit teilen.
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Dich wiegt in goldner Luft ein Taubenpaar,
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Ich sehe wilde Rosse nur sich bäumen;
47 
Du träumst von Schmetterlingen, ich vom Aar
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O Gott der Liebe, laß mein Mädchen träumen!
 
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Du Stern, der, wie das Glück, aus Wolken bricht!
50 
Du Nacht, mit deinen tiefen stillen Blauen,
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Laßt der erwachten Welt zu frühe nicht
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Mich in das gramentstellte Antlitz schauen!
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Auf Tränen fällt der erste Sonnenstrahl,
54 
Die Freiheit muß das Feld dem Tage räumen,
55 
Die Tyrannei schleift wieder dann den Stahl
56 
O Gott der Träume, laß uns alle träumen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.1 KB)

Details zum Gedicht „Der Gang um Mitternacht“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
409
Entstehungsjahr
1840
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Gang um Mitternacht“ wurde von Georg Herwegh verfasst, einem deutschen Dichter und politischen Aktivisten, der zwischen 1817 und 1875 lebte. Er ist einer der wichtigsten Vertreter des Vormärz und der 1848er-Revolution.

Auf einem ersten Blick handelt es von einer späten, einsamen, contemplativen Streifzug durch eine Stadt, in der die Bewohner schlafen.

Das lyrische Ich des Gedichts bewegt sich in den stillen Straßen und gibt seine Eindrücke und Gedanken wieder. Er reflektiert menschliche Erfahrungen von Freude und Leid, Hass und Liebe sowie Träume und Verlust. Die Mitternachtsstunde symbolisiert dabei eine Zeit der inneren Ruhe und zugleich der Einsamkeit. Es besteht eine metaphorische Verbindung zwischen den Emotionen und Träumen der Menschen und den nächtlichen Straßen und Gebäuden.

Das Gedicht besteht aus sieben Strophen mit jeweils acht Versen. Die regelmäßige Strophenform könnte eine Struktur und Ordnung suggerieren, die im Kontrast zur Dunkelheit der Nacht und der emotionalen Komplexität des lyrischen Ichs steht. Im Sprachgebrauch dominieren Metaphern und Vergleiche. Herwegh nutzt eine eher traditionelle, poetische Sprache und integriert dennoch politische und gesellschaftliche Kritik, typisch für den Vormärz.

Es wurde eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gezeigt. Das lyrische Ich stellt fest, dass die Welt erschöpft ist und sehnt sich nach Ruhe und Erneuerung. In dem nächtlichen Setting liegen sowohl eine gewisse Melancholie als auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Zusammenfassend erweitert Herwegh mit „Der Gang um Mitternacht“ das traditionelle Genre der Nachtwanderung, indem er es mit politischen und sozialen Elementen verbindet. Er stellt grundlegende menschliche Emotionen und Erfahrungen aus und regt den Leser zu tiefen kulturellen und individuellen Reflexionen an.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der Gang um Mitternacht“ ist Georg Herwegh. 1817 wurde Herwegh in Stuttgart geboren. 1840 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Junges Deutschland & Vormärz zu. Herwegh ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 409 Worte. Die Gedichte „Die Partei“, „Die Schweiz“ und „Epilog zum Kriege“ sind weitere Werke des Autors Georg Herwegh. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Gang um Mitternacht“ weitere 200 Gedichte vor.

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