Der Götter Irrfahrt von Joseph von Eichendorff

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Unten endlos nichts als Wasser,
Droben Himmel still und weit,
Nur das Götterland, das blasse,
Lag in Meereseinsamkeit,
Wo auf farbenlosen Matten
Gipfel wie in Träumen stehn,
Und Gestalten ohne Schatten
Ewig lautlos sich ergehn.
 
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Zwischen grauen Wolkenschweifen,
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Die verschlafen Berg und Flut
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Mit den langen Schleiern streifen,
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Hoch der Göttervater ruht.
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Heut zu fischen ihn gelüstet,
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Und vom zack'gen Felsenhang
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In des Meeres grüne Wüste
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Senket er die Schnur zum Fang.
 
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Sinnend sitzt er, und es flattern
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Bart und Haar im Sturme weit,
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Und die Zeit wird ihm so lange
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In der stillen Ewigkeit.
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Da fühlt er die Angel zucken:
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»Ei, das ist ein schwerer Fisch!«
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Freudig fängt er an zu rucken,
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Stemmt sich, zieht und windet frisch.
 
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Sieh, da hebt er Felsenspitzen
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Langsam aus der Wasser Grund,
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Und erschrocken aus den Ritzen
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Schießen schupp'ge Schlangen bunt;
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Ringelnd' Ungetüm' der Tiefen,
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Die im öden Wogenhaus
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In der grünen Dämmrung schliefen,
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Stürzen sich ins Meer hinaus.
 
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Doch der Vater hebt aufs neue
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Und Gebirge, Tal und Strand
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Taucht allmählich auf ins Freie;
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Und es grünt das junge Land,
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Irrend farb'ge Lichter schweifen
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Und von Blumen glänzt die Flur,
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Wo des Vaters Blick' sie streifen
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Da zerreißt die Angelschnur.
 
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Wie 'ne liebliche Sirene
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Halb nun überm Wellenglanz,
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Staunend ob der eignen Schöne,
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Schwebt es mit dem Blütenkranz,
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Bei der Lüfte lindem Fächeln
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Sich im Meer, das rosig brennt,
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Spiegelnd mit verschämtem Lächeln
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Erde sie der Vater nennt.
 
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Staunend auf den Göttersitzen
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Die Unsterblichen nun stehn,
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Sehn den Morgen drüben blitzen,
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Fühlen Duft herüberwehn,
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Und so süßes Weh sie spüren,
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Lösen leis ihr Schiff vom Strand,
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Und die Lüfte sie verführen
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Fern durchs Meer zum jungen Land.
 
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O wie da die Quellen sprangen
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In die tiefe Blütenpracht
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Und Lianen dort sich schlangen
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Glühend durch die Waldesnacht!
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Und die Wandrer trunken lauschen,
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Wo die Wasserfälle gehn,
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Bis sie in dem Frühlingsrauschen
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Plötzlich all erschrocken stehn:
 
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Denn sie sehn zum ersten Male
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Nun die Sonne niedergehn
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Und verwundert Berg' und Tale
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Tief im Abendrote stehn,
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Und der schönste Gott von allen
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Sank erbleichend in den Duft,
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Denn dem Tode ist verfallen,
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Wer geatmet ird'sche Luft.
 
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Die Genossen faßt ein Grauen,
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Und sie fahren weit ins Meer,
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Nach des Vaters Haus sie schauen,
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Doch sie finden's nimmermehr.
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Mußten aus den Wogenwüsten
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Ihrer Schiffe Schnäbel drehn
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Wieder nach des Eilands Küsten,
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Ach, das war so falsch und schön!
 
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Und für immer da verschlagen
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Blieben sie im fremden Land,
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Hörten nachts des Vaters Klagen
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Oft noch fern vom Götterstrand.
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Und nun Kindeskinder müssen
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Nach der Heimat sehn ins Meer,
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Und es kommt im Wind ein Grüßen,
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Und sie wissen nicht woher.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31 KB)

Details zum Gedicht „Der Götter Irrfahrt“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
434
Entstehungsjahr
1788 - 1857
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Joseph von Eichendorff, der in die Zeit des literarischen Realismus Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts eingeordnet wird. Das Gedicht „Der Götter Irrfahrt“ ist stark von Romantikelementen durchzogen, wie die Vermischung von Realität und Fantasie, das Mystische und die Naturverbundenheit.

Beim ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine fantastische und mystische Reise oder Geschichte, wie sie typisch ist für Werke der Romantik. Eichendorff erzählt eine Art Schöpfungsmythos. Dabei wird die Geschichte einer Gruppe von Göttern erzählt, die mitten im Meer leben und durch Zufall die Erde erschaffen. Sie werden von dieser Erde angezogen, begeben sich dorthin, erleben erste Berührungen mit der Sterblichkeit und verlieren dabei ihr Zuhause. Letztendlich sind sie und ihre Nachkommen auf der Erde gefangen, sehnen sich nach ihrem verlorenen Zuhause, das sie aber nicht mehr erreichen können.

Formal ist das Gedicht in 11 Strophen unterteilt, wobei jede Strophe aus acht oder neun Versen besteht. Die Sprache des Gedichts ist eher einfach und klar, aber voller bildhafter, malerischer Darstellungen. Es besteht ein regelmäßiges Metrum und Reimschema, was dem Gedicht einen harmonischen Klang verleiht.

Die Aussage des Gedichts kann als metaphorisch betrachtet werden. Die Götter könnten als Symbol für den Menschen stehen, der sich in seiner Existenz von der Natur entfremdet und dessen Heimweh nach der Harmonie und Einheit mit der Natur durch das Leben in einer industrialisierten und technologisierten Welt entsteht. Das Gedicht könnte daher eine Kritik an der fortschreitenden Entfremdung des Menschen von der Natur und ein Aufruf zur Besinnung auf die natürlichen Wurzeln des Menschen sein.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Götter Irrfahrt“ des Autors Joseph von Eichendorff. Eichendorff wurde im Jahr 1788 geboren. In der Zeit von 1804 bis 1857 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Romantik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Eichendorff ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Der Romantik vorausgegangen waren die Epochen der Weimarer Klassik und der Aufklärung. Die Literaturepoche der Romantik ist zeitlich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einzuordnen. Insbesondere auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur hatte diese Epoche Auswirkungen. Bis in das Jahr 1804 hinein spricht man in der Literatur von der Frühromantik, bis 1815 von der Hochromantik und bis 1848 von der Spätromantik. Die Epoche der Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. Im gesamten Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichzeitig bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Industrialisierung und technologischer Fortschritt sind prägend für diese Zeit. Als Merkmale der Romantik sind die Verklärung des Mittelalters, die Weltflucht, die Hinwendung zur Natur, die Betonung subjektiver Gefühle und des Individuums, der Rückzug in Fantasie- und Traumwelten oder die Faszination des Unheimlichen zu benennen. Wichtige Symbole sind die Blaue Blume oder das Spiegel- und Nachtmotiv. Strebte die Klassik nach harmonischer Vollendung und gedanklicher Klarheit, so ist die Romantik von einer an den Barock erinnernden Maß- und Regellosigkeit geprägt. Die Romantik begreift die schöpferische Phantasie des Künstlers als unendlich. Zwar baut sie dabei auf die Errungenschaften der Klassik auf. Deren Ziele und Regeln möchte sie aber hinter sich lassen.

Das Gedicht besteht aus 90 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 434 Worte. Weitere Werke des Dichters Joseph von Eichendorff sind „Die Heimat“, „In Danzig“ und „Kurze Fahrt“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Götter Irrfahrt“ weitere 395 Gedichte vor.

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