Augen in der Großstadt von Kurt Tucholsky

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
10 
die Braue, Pupillen, die Lider –
11 
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
12 
vorbei, verweht, nie wieder.
 
13 
Du gehst dein Leben lang
14 
auf tausend Straßen;
15 
du siehst auf deinem Gang,
16 
die dich vergaßen.
 
17 
Ein Auge winkt,
18 
die Seele klingt;
19 
du hasts gefunden,
20 
nur für Sekunden …
21 
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
22 
die Braue, Pupillen, die Lider;
23 
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
24 
vorbei, verweht, nie wieder.
 
25 
Du mußt auf deinem Gang
26 
durch Städte wandern;
27 
siehst einen Pulsschlag lang
28 
den fremden Andern.
29 
Es kann ein Feind sein,
30 
es kann ein Freund sein,
31 
es kann im Kampfe dein
32 
Genosse sein.
33 
Es sieht hinüber
34 
Und zieht vorüber …
35 
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
36 
die Braue, Pupillen, die Lider.
37 
Was war das?
38 
Von der großen Menschheit ein Stück!
39 
Vorbei, verweht, nie wieder.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Augen in der Großstadt“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
39
Anzahl Wörter
161
Entstehungsjahr
1930
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Augen in der Großstadt“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, der von 1890 bis 1935 lebte. Dies platziert das Werk in eine Zeit des Umbruchs und der Modernisierung, das Deutschland der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, eine Zeit enorme gesellschaftliche und politische Veränderungen.

Beim ersten Lesen fällt die melancholische Stimmung auf, die durch die wiederholte imagery von vergänglichen Begegnungen und den ewigen Fluss des Stadt- und Lebensstroms erzeugt wird.

Im Inhalt geht es um einen Charakter, das lyrische Ich, welches seinen Arbeitsalltag in der Stadt durchlebt und dabei auf die anderen Menschen aufmerksam wird, über die er nur ein kurzer Blick erhaschen kann. Diese flüchtigen Blicke könnten möglicherweise eine tiefere Bedeutung haben – sie könnten ein Freund, ein Feind, ein Genosse oder sogar das Lebensglück sein – aber sie sind immer vergänglich und unerreichbar, „vorbei, verweht, nie wieder“.

Diese Hauptthematik verweist auf das Individuum in der modernen Großstadt, das trotz seiner Nähe zu Millionen von anderen Menschen immer isoliert ist, und den Wandel der traditionellen dörflichen oder klein-städtischen Gemeinschaften in der Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert in Anonymität und Entfremdung der modernen Großstadt.

Form und Sprache des Gedichts sind recht einfach gehalten. Es hat keinen festen Reim- oder Versmaß und keine komplizierten rhetorischen Techniken. Das Gedicht verwendet eine einfache, moderne Sprache und zeichnet sich durch seine Wiederholungen und Variationen aus, insbesondere der wiederholende Vers „Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick“ und sein Variation in den abschließenden Gedanken jeder Strophe, hauptsächlich „vorbei, verweht, nie wieder“. Das gibt dem Gedicht seinen Rhythmus und unterstützt seine melancholische Atmosphäre.

Insgesamt reflektiert das Gedicht „Augen in der Großstadt“ Tucholskys kritische Sozialansicht und seine modernistische Sichtweise auf die Großstadt als anonymen und entfremdenden Ort. Es stellt den Alltag in der Stadt als eine Abfolge vergänglicher und bedeutungsloser Begegnungen dar, hinter denen jedoch immer die Chance auf eine tiefergehende Verbindung und menschliche Nähe besteht, die jedoch durch das Tempo und die Anonymität der modernen Gesellschaft unerreichbar bleibt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Augen in der Großstadt“ ist Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. 1930 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Es ist als Reaktion auf den literarischen Expressionismus zu werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich dabei an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das im Jahr 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Schriftsteller ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen viele Schriftsteller aus Deutschland ins Ausland. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus erkennen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das vorliegende Gedicht umfasst 161 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 39 Versen. Weitere Werke des Dichters Kurt Tucholsky sind „’s ist Krieg!“, „Abschied von der Junggesellenzeit“ und „Achtundvierzig“. Zum Autor des Gedichtes „Augen in der Großstadt“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Das Video mit dem Titel „Kurt Tucholsky Augen in der Großstadt (1930) II“ wurde auf YouTube veröffentlicht. Unter Umständen sind 2 Klicks auf den Play-Button erforderlich um das Video zu starten.

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Kurt Tucholsky

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Kurt Tucholsky und seinem Gedicht „Augen in der Großstadt“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Kurt Tucholsky (Infos zum Autor)

Zum Autor Kurt Tucholsky sind auf abi-pur.de 136 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.