Wo ist der Schnee … von Kurt Tucholsky

Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr,
Anna-Susanna?
Weißt du noch, was damals Mode war,
Anna-Susanna?
Die Literatur trug man vorne gerafft,
jede Woche gabs ein Genie.
Und alles murmelte: „Faaabelhaft!
Rein menschlich … irgendwie …!“
 
Wo sind die Blumen vom letzten Lenz,
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Anna-Susanna?
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Die Betonung des kosmischen Bühnen-Akzents,
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Anna-Susanna?
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Das gebildete Publikum lief zuhauf
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mit der Kritiker-Artillerie.
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Und die Stücke führt kein Mensch mehr auf,
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rein menschlich irgendwie.
 
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Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr,
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Anna-Susanna?
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Brecht wird sein, was Sudermann war,
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Anna-Susanna.
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Sie brüllen sich hoch, die Reklame schreit,
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das ist eine Industrie.
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Pro Mann einen Monat Unsterblichkeit
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– Anna-Susanna –
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rein menschlich irgendwie.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.6 KB)

Details zum Gedicht „Wo ist der Schnee …“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
25
Anzahl Wörter
102
Entstehungsjahr
1932
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Wo ist der Schnee…“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller der Weimarer Republik. Es lässt sich zeitlich in die 1920er Jahre einordnen.

Auf den ersten Eindruck sticht die repetitive Struktur des Werkes mit der wiederkehrenden Anrede „Anna-Susanna“ und der Frage „Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr“ ins Auge. Dabei scheint eine melancholische, nachdenkliche Stimmung durch das gesamte Gedicht zu ziehen.

Inhaltlich setzt sich Tucholsky hier mit dem Zeitgeist, den Moden und Trends seiner Epoche auseinander. Er thematisiert in seinen Versen den Wandel, das Vergängliche und die Flüchtigkeit des Menschlichen. Immer wieder fragt das lyrische Ich, wo der Schnee vom vergangenen Jahr, die Blumen vom letzten Lenz sind - Metaphern für vergangene Zeiten und verlorene Moden. Tucholsky kritisiert damit die Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit der gesellschaftlichen Trends und der Literatur seiner Zeit. Weiterhin weist er auf die Vergänglichkeit des Ruhms und der Beliebtheit hin, die ihm nach rein menschlich erscheint.

Formal ist das Gedicht in drei Strophen unterteilt, die unterschiedlich viele Verse enthalten. Jede Strophe endet mit der Wendung „rein menschlich irgendwie“, was den kritischen Ton des Gedichts unterstützt. Sprachlich zeichnet sich das Gedicht durch eine einfache, klare Sprache aus. Allerdings sind auch Andeutungen und Anspielungen zu erkennen, die auf eine kulturkritische Ebene verweisen. So nimmt das Gedicht etwa Bezug auf Bertolt Brecht und Hermann Sudermann, zwei bedeutende Künstler seiner Zeit, um die Flüchtigkeit von Ruhm und Anerkennung zu verdeutlichen.

Tucholskys Gedicht ist also eine kritische Reflexion des gesellschaftlichen und literarischen Lebens seiner Zeit, die sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene zum Ausdruck kommt. Es kritisiert die Tendenz zur Oberflächlichkeit und zur Vergänglichkeit und stellt diese Aspekte als rein menschlich dar.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Wo ist der Schnee …“. Der Autor Kurt Tucholsky wurde 1890 in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1932. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Es ist als Reaktion auf den literarischen Expressionismus zu werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich dabei an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Schriftsteller ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen viele Schriftsteller aus Deutschland ins Ausland. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Themen der deutschen Exilliteratur lassen sich zunächst in zwei Gruppen einteilen. Einige Autoren fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht zu Hause, hatten Heimweh und wollten einfach in ihr altes Leben vor dem Nationalsozialismus zurückkehren. Oftmals konnten sie im Ausland nicht mehr ihrer Tätigkeit als Schriftsteller nachgehen, da sie nur in deutscher Sprache schreiben konnten, was im Ausland niemand verstand. Heimweh und ihre Liebe zum Mutterland sind die thematischen Schwerpunkte in ihren Werken. Andere Schriftsteller wollten sich gegen Nazideutschland wehren. Man wollte einerseits die Welt über die Grausamkeiten in Deutschland aufklären. Andererseits aber auch den Widerstand unterstützen. Anders als andere Literaturepochen, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Bertolt Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 102 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 25 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Weitere Werke des Dichters Kurt Tucholsky sind „An das Publikum“, „An die Meinige“ und „An einen garnisondienstfähigen Dichter“. Zum Autor des Gedichtes „Wo ist der Schnee …“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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