Tarquin und Lucretia von William Shakespeare

Von Ardeas Belagerung entflieht,
Auf Flügeln unrechtmäß’ger Gier getragen,
Tarquin, vom Römerheere lust-entglüht,
Mit Feuer nach Collatium zu jagen,
Das lichtlos, asch’erdrückt droht aufzuschlagen;
Den schönen Leib zu fah’n in schmutz’gem Triebe,
Lucretia’s, Collatinens keuscher Liebe.
 
Der Keuschen“; dieses „keusch“ gerade mußte
Verschärfen seiner wilden Neigung Qualen,
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Als Collatinus, unvorsichtig, wußte
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Der Farben Glanz mit Worten auszumalen,
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Die an dem Himmel seiner Wonne strahlen,
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Wo ihn allein zwei Erdensterne ehren,
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So glänzend schön, wie die der Himmelssphären.
 
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Denn letzte Nacht, im Zelte des Tarquin,
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Entdeckt’ er seinen Schatz, sein glücklich Leben;
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Welch fürstlich Gut die Götter ihm verlieh’n,
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Als sie die schöne Gattin ihm gegeben;
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Mocht’ so sich seines Glückes überheben:
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Daß Kön’ge wohl sich größerm Ruhm vermählten,
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Doch nimmer so vollkommne Schönheit wählten.
 
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O nur von Wenigen genoßnes Glück!
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Genossen selbst, wie welkt’s bald und erbleichet!
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So schmilzt des Morgenthaues Silberblick,
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Wenn ihn der Sonne goldner Strahl erreichet,
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So flieht die Zeit, begonnen kaum, und weichet.
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Schützt Ehr’ und Schönheit doch selbst Eigners Arm,
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Hier in der Frevelwelt, nur schwach vor Harm.
 
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Die Schönheit überzeugt durch sich allein
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Das Aug’, und ohne Worte wird sie strahlen;
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Was einfach ist, mag unbewiesen sein,
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Drum war es unnütz, sie so auszumalen.
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Und durfte Collatinus mit ihr prahlen?
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Mußt’ er nicht den Juwel, weil er sein eigen,
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Den köstlichen, vor Diebesohr verschweigen?
 
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Ob nun sein Prahlen mit Lucretiens Werth
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Des Fürsten heiße Gluth zum Ausbruch brachte, –
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Wie unser Ohr denn oft das Herz bethört, –
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Ob um den Schatz, den reich er, einzig achte,
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Im aufgeregten Geist der Neid erwachte,
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Empört, daß ein geringer Mann sich brüste
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Mit goldnem Loos, das er, sein Obrer, mißte,
 
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Genug, wenn Beides nicht, unzeitig drängt
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Ein Einfall ihn zu gleich unzeit’gem Eilen.
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An Freunde, Stand und Ehr’, an nichts er denkt,
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Verläßt den Platz und flieget ohne Weilen,
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Von innerm Brand, ihn stillend, sich zu heilen.
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O rasche, falsche Gluth, die Reue kalt
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Umschließt, du welkst im Lenz und wirst nicht alt.
 
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Als in Collatium ab der Falsche stieg,
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Hieß freundlich ihn die Römerin willkommen,
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In deren Antlitz Schönheit um den Sieg
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Mit Tugend stritt; wer mehr ihr Ruhm gewonnen;
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Rühmt Tugend sich’s, wird Schönheit schamentglommen,
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Und prahlt mit Roth die Schönheit, wird verdrossen
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Ihr Glüh’n von Tugend silberweiß begossen.
 
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Die Schönheit, die ein Recht auf’s Weiß gewann
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Durch Venus Tauben, heischet ihr Gefilde;
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Der Schönheit Roth verlangt die Tugend dann, –
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Wie sie’s, daß es die Silberwang’ vergülde,
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Dem goldnen Alter gab; – und wählt’s zum Schilde,
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Und lehrt sie, wenn die Scham bedroht, es nützen:
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Dann müsse Roth, das Weiß, umschließend, schützen.
 
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Die Wappen in Lucretiens Gesicht,
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So Schönheits-Roth und Tugend-Weiß andeuten,
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Der Farben jede weicht der andern nicht,
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Da sie vom Weltbeginn ihr Recht herleiten;
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Und doch läßt sie ihr Stolz fortwährend streiten,
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Da beider Herrscherrecht so unbeschränkt,
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Daß eine oft vom Thron die andre drängt.
 
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Den Kampf von Lilienweiß und Rosenglüh’n
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Erblickt Tarquin im Feld der schönen Wangen;
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In ihre Reih’n läßt er sein Auge zieh’n,
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Und zwischen beiden faßt ihn Todesbangen.
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Er giebt, ein Feigling, sich besiegt gefangen
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Zwei Heeren, die ihn lieber ziehen ließen,
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Als über solchen Feind Triumph genießen.
 
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Er glaubt nun fest, des Gatten seichter Zungen,
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Als sie der Geiz’ge so freigebig pries,
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Sei ihrer hohen Schönheit Bild mißlungen,
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Für die sich sein Gehirn zu schwach erwies;
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Darum, was Collatin am Lob verstieß,
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Das zollt Tarquin, argwöhnend jetzt, mit Augen,
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Die, still bewundernd, nur Entzücken saugen.
 
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Die Heilige, verehrt von diesem Teufel,
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Beargwöhnt wenig seine falsche Gluth.
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Ein unbefleckter Geist hegt selten Zweifel,
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Kein Dickicht scheut die nie gefangne Brut
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Der Vögel; unschuldsvoll und wohlgemuth
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Naht sie dem hohen Gast mit Ehrerbieten,
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Deß inn’re Mängel äuß’re nicht verriethen.
 
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Denn jene hohe Würde, die ihn zieret,
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Verbirgt den niedren Sinn in Majestät,
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In der, was ungeordnet, sich verlieret;
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Bewund’rung nur zu oft sein Aug’ verräth,
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Das, Alles habend, doch nach mehr noch späht,
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Im Reichthum arm, im Ueberfluß entbehrend,
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Von Vielem übersatt, doch noch begehrend.
 
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Sie, deren Augen nie mit fremden streiten,
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Versteht nicht, was aus jenen Blicken spricht;
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Kann lesen nicht versteckte Heimlichkeiten,
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Die solcher Bücher Spiegelrand umflicht;
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Berührt nicht Köder, fürchtet Angel nicht,
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Und kann aus seinem Wollustblick nur schließen,
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Daß seine Augen gern das Licht genießen.
 
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Er singt ihr ihres Gatten Ruhm in’s Ohr,
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So weit Italiens reich Gefilde grenze;
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Hebt preisend Collatinens Würd’ empor,
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Der hoch in mannhaft tapfren Thaten glänze,
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Geschmückt durch Waffenbeut’ und Siegeskränze.
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Sie hebt die Händ’ empor mit frohem Blick,
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Und dankt dem Himmel wortlos für dies Glück.
 
113 
Entschuld’gung seines Hierseins fehlt ihm nicht,
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Noch ist er fern von seines Kommens Zwecken;
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Kein Wölkchen, das von bösem Wetter spricht,
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Läßt auf der heitern Stirne sich entdecken,
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Bis daß die schwarze Nacht, der Quell der Schrecken,
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Den Tag in ihres Kerkers Wölbung schließt,
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Und trübes Dunkel auf die Erde gießt.
 
120 
Da wird Tarquin, der müd’ und schläfrig schien, –
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So stellt er sich, – zur Lagerstatt gebracht,
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Denn nach dem Mahle wußt’ er hinzuzieh’n
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Die Plauderei mit ihr tief in die Nacht;
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Doch jetzt kämpft Lebenskraft mit Schlafesmacht,
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Die Jedermann das Lager suchen heißt,
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Nur Diebe, Gram nicht und unruh’gen Geist.
 
127 
So liegt Tarquin und denkt an die Gefahren,
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Um die sich seiner Lust Erfüllung dreht;
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Es drängt ihn, seinen Lüsten zu willfahren,
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Ob schwache Hoffnung gleich zum Absteh’n räth,
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Wie Siegsverzweiflung oft auf Sieg ausgeht,
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Und wenn ein großer Schatz als Lohn uns winket,
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Ob Tod drauf steh’, der Tod nicht Tod uns dünket.
 
134 
Wer viel begehrt, hat, in Gewinn verliebt,
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Nicht was er hat; er weiß es nicht zu nützen,
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Und wird, weil achtlos er’s aus Händen giebt,
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Stets mehr verhoffend, wen’ger stets besitzen.
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Gewinnt er viel, dann wird des Goldes Blitzen
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Mit Kummer ihn beladen und Beschwerden,
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Reich arm, wird im Gewinn bankrott er werden.
 
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Der Zweck ist nur, zu pflegen unser Leben
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Mit Reichthum, Ehr’ und Ruh in alten Tagen;
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Doch also kämpfen wir bei diesem Streben,
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Daß Eins für All’ und All’ für Eins wir wagen;
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Für Ehre Leben in die Schanze schlagen;
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Der Reichthum kostet Ehr’, und er allein
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Wird Aller Tod oft, Aller Ende sein.
 
148 
Wir geben’s auf, wenn wir zu viel erlangen,
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Das, was wir sind zu sein, um künft’ges Glück,
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Und diese Schwäch’, hochmüthiges Verlangen
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Nach großem Gut, läßt quälend Fehl zurück
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Am jetz’gen Eigenthum: denn so den Blick
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Dem, was wir haben, achtlos abgekehrt,
154 
Wird Was aus Unverstand zu Nichts vermehrt.
 
155 
Tarquin muß mit dem Wagstück sich befassen,
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Verliebt, der Lust verpfänden seine Ehr’,
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Und für sich selbst muß er sich selbst verlassen: –
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Wo wär’ auch Treu’, wenn nicht Selbsttreue wär’!
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Gerecht erwarte nicht den Fremden mehr
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Wer selber sich betrügt, sich hingegeben
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Der Lästerzung’, und wüst verhaßtem Leben.
 
162 
Der Tod der Nacht hat nun die Zeit beschlichen,
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Der Wesen Aug’ hat schwerer Schlaf verdeckt;
164 
Die Sterne sind, die tröstlichen, verblichen,
165 
Kein Laut; Tod kündend Eul’ und Wolf nur schreckt,
166 
Die ihre Zeit zum Ueberfall jetzt weckt;
167 
Still ist das Lamm, Ruh’ reinem Geist geworden,
168 
Wach Lust und Raub zu schänden und zu morden.
 
169 
Da, glühend, springt vom Lager auf Tarquin,
170 
Hängt schnell den Mantel um den Arm; ihn treiben
171 
Begierd’ und Furcht wahnsinnig her und hin;
172 
Süß schmeichelt jene, diese mahnt zu bleiben,
173 
Dem Wollustzauber weicht die Furcht beim Sträuben;
174 
Sie sträubt sich lang’, doch endlich unterlieget
175 
Die redliche, von niedrer Gier besieget.
 
176 
Leicht schlägt an einen Stein er mit dem Schwert,
177 
Und eine Fackel dann von Wachs entzündet
178 
Er an dem Strahl, der aus dem Kiesel fährt,
179 
Als Leitstern, daß den Weg das Auge findet;
180 
Und ihrer Flamm’ er so den Willen kündet:
181 
Wie ich aus kaltem Stein hieß Funken springen,
182 
Muß ich Lukretia mir zu Willen zwingen.
 
183 
Doch bleich vor Furcht, erst die Gefahr erwäget
184 
Er nun von solch abscheulichem Begeh’n;
185 
Die lange Reih’ von Trübsal überleget
186 
Sein Inneres, die daraus mag entsteh’n:
187 
Mit Abscheu nur kann er die Waffe seh’n
188 
Nach unterdrückter Lust; muß sie verachten,
189 
Und tadelt so mit Recht sein unrecht Trachten:
 
190 
Verlisch, o Fackel! leihe nicht dein Licht
191 
Zu trüben das, das heller als das deine!
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Stirb hin, unheiliger Gedank’, und nicht
193 
Befleck’ Unlauteres die göttlich Reine!
194 
Nur reinen Weihrauch bring’ solch reinem Schreine:
195 
Scheu’ eine That, o schöne Menschlichkeit,
196 
Die es befleckt, der Liebe weißes Kleid.
 
197 
O Ritterthum und Waffenglanz erblaßt!
198 
Der Ahnen Grab wird diese That entehren!
199 
Gottlose That, die alles Bös’ umfaßt:
200 
Ein Krieger läßt von Wollust sich bethören!
201 
Der wahre Muth soll wahre Liebe schwören;
202 
So niedrig, schmachvoll drum wird mein Vergeh’n
203 
Dem Antlitz lebend eingegraben steh’n.
 
204 
Ja, stürb’ ich, mein Verbrechen würde leben,
205 
Dem Goldgewand als Schandfleck aufgeprägt,
206 
Und ein verhaßtes Mal dem Herold geben,
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Zu zeichnen mich, der solche Lust gehegt;
208 
Und mein Geschlecht, mit Brandmals Schmach belegt,
209 
Wird, mich verfluchend, gern den Wunsch gesteh’n,
210 
Daß ich, ihr Vater, nie das Licht geseh’n.
 
211 
Was hätt’ ich, könnt’ ich meinen Wunsch erlangen?
212 
Traum, Hauch und Freudenrausch, der schnell entfährt.
213 
Wer kauft Minutenlust um Wochenbangen?
214 
Verkauft um nicht’gen Tand, was ewig währt?
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Wer ist, der um ’ne Traub’ die Reb’ zerstört?
216 
Wo ließe wohl ein Bettler, um zu tragen
217 
Der Krone Glanz, vom Scepter sich erschlagen?
 
218 
Wird Collatin, wenn ihm mein Vorsatz träumt,
219 
Vom Schlaf nicht mit Verzweiflungswuth auffahren?
220 
Mein schändlich Werk zu stören, ungesäumt
221 
Hereilen, seine Eh’ vor Sturm zu wahren?
222 
Zu wehren Jugend Schmach, Gram weißen Haaren,
223 
Der Tugend Tod, der Schande ewig Leben, –
224 
Und mich endlosem Tadel übergeben?
 
225 
Wie mag mein Geist Entschuldigung nur finden,
226 
Zeihst du mich solcher That? – Mein schwach Gebein
227 
Wird zittern, meiner Zunge Sprach’ entschwinden,
228 
Verlieren wird das Auge seinen Schein.
229 
Wenn groß die Schuld, wird Furcht stets größer sein;
230 
Und große Furcht kann flieh’n nicht das Verderben,
231 
Auch kämpft sie nicht, nein zitternd muß sie sterben.
 
232 
Hätt’ Collatin mir Vater, Sohn erschlagen,
233 
Wollt’ meuchlings er mir an das Leben geh’n;
234 
Wär’ er mein Freund nicht, – wäre mein Betragen
235 
Entschuldigt, seinem Weibe nachzusteh’n:
236 
Es wäre dann aus Rache nur gescheh’n;
237 
Doch da Verwandtschaft uns und Freundschaft bindet,
238 
Bleibt’s eine Schmach, die nie Entschuld’gung findet.
 
239 
Entehrend ist’s! – ja, wenn bekannt es wär’:
240 
Gehässig ist’s! – die Liebe kann nicht hassen.
241 
Ich fleh’ um Liebe sie, – die frei nicht mehr:
242 
Das Schlimmste wär’, wollt’ sie mich nicht umfassen.
243 
Längst hat mein Wille die Vernunft verlassen;
244 
Wer Urtheil scheut und weisen Spruch der Alten,
245 
In Furcht wird den bemalte Leinwand halten.
 
246 
So läßt er frech sein glühend heiß Begehren
247 
Zu Rath mit eisigem Gewissen geh’n;
248 
Weiß bessere Gedanken abzuwehren,
249 
Daß schlechtere Gefühl’ im Vortheil steh’n,
250 
Die jeden guten Vorsatz gleich verweh’n,
251 
Und bald dahin gelangen, einen Schein
252 
Von edler That dem Schändlichen zu leih’n.
 
253 
Wie freundlich, spricht er, hielt sie meine Hand,
254 
Als scharf sie in mein lüstern Auge spähte,
255 
Ob böse Post nicht von des Heeres Stand,
256 
Wo Collatinus weilet, ich ihr böte;
257 
Wie Furcht da ihrer Farben Schmelz erhöhte!
258 
Erst Rosenroth, auf Linnenweiß entglommen,
259 
Dann Linnen, wenn die Rosen fortgenommen.
 
260 
Wie sie dann ihre Hand in meine legte,
261 
Die ihre treue Furcht zu zittern zwang,
262 
Was ihr mehr banges Zittern noch erregte,
263 
Bis ihres Gatten Wohlfahrt ihr erklang,
264 
Worauf ein Lächeln ihr in’s Antlitz drang,
265 
Daß nie Narciß, mit solchem Blick beschenkt,
266 
In sich verliebt, sich in der Fluth ertränkt.
 
267 
Wie mag ich nur noch nach Entschuld’gung jagen?
268 
Des Redners Kunst verstummt, wo Schönheit spricht;
269 
Mag dummen Tropf Gewissensmißbrauch plagen,
270 
Ein Herz, das Liebe kennt, scheut Schatten nicht.
271 
Mich führt die Lieb’, und wenn die Liebe spricht,
272 
Wenn erst ihr reich geschmücktes Banner weht,
273 
Kämpft auch der Feigling, dem dann Muth entsteht.
 
274 
Drum fort, unmünd’ge Furcht! stirb Ueberlegen!
275 
Vernunft und Scheu dient runzelvollen Greisen:
276 
Nie stellt mein Herz den Augen sich entgegen;
277 
Ernst zweifeln, tief erwägen ziemt den Weisen,
278 
Doch so ist Jugendgluth nicht abzuweisen.
279 
Lust sei Pilot mir, Schönheit meine Beute!
280 
Für solchen Schatz, – wer ist, der’s Sinken scheute?
 
281 
So will unbänd’ge Lust beinah’ ersticken
282 
Vorsicht’ge Furcht, wie Unkraut gute Saat;
283 
Fort schleicht er, offnen Ohrs, mit Lauscherblicken.
284 
Hier niedre Hoffnung, eitle Scheu dort naht,
285 
Begleiter beide stets der Missethat,
286 
Die widersprechend sich mit Rath durchkreuzen,
287 
Bald ihn zum Friedensschwur, zum Krieg bald reizen.
 
288 
Ihm in Gedanken thront ihr Himmelsbild,
289 
Und Collatin macht auch den Sitz sich eigen.
290 
Sein Aug’, das sie erblickt, es macht ihn wild;
291 
Ihr Aug’, das ihn erblickt, will hehr sich zeigen,
292 
Nicht zu so schlechtem Anblick niedersteigen;
293 
Doch an ein Herz den reinen Ruf es richtet,
294 
Das, schon verderbt, auf Besseres verzichtet.
 
295 
Dort pflegt er Kräfte, dienend ihm verbunden,
296 
Geschmeichelt von des Führers heiterm Schein,
297 
Die Lust voll füllen, wie Minuten Stunden,
298 
Und wie ihr Herr in Uebermuth gedeih’n,
299 
Dem sie Tribut, mehr als sie schuldig, weih’n.
300 
So tollkühn zu Lucretiens Bette schreitet
301 
Roms Herrscher, von verworfner Gier geleitet.
 
302 
Gesprengt, zieht jedes Schloß, das ihr Gemach
303 
Von seinem Willen trennt, die Riegel ein;
304 
Doch schilt den bösen Vorsatz ihr Gekrach,
305 
Und heißt den feigen Dieb vorsichtig sein:
306 
Er hört die Thüren knarrend ihn bedräu’n,
307 
Nachtwiesel kreischen, als sie dort ihn schauen;
308 
Sie schrecken ihn, doch er besiegt das Grauen.
 
309 
Wie jede Pfort’ erzwungne Bahn gewähret,
310 
Da kämpft durch Spalt’ und Ritzen mit dem Licht
311 
Der Fackel, heft’ger Windzug, der ihm wehret,
312 
Und bläs’t, sie löschend, Rauch ihm in’s Gesicht,
313 
Daß ihre Leitung fast ihm schon gebricht;
314 
Doch weiß sein heißes Herz mit andern Winden,
315 
Mit Sehnsuchtsgluth, sie wieder anzuzünden.
 
316 
Und er gewahrt, als dieses Licht ihm glitzt,
317 
Lucretiens Handschuh’, die am Boden lagen;
318 
Er griff danach, doch eine Nadel ritzt
319 
Die Finger blutig ihm, als wollt’ sie sagen:
320 
Der Handschuh will dein Tändeln nicht ertragen,
321 
Du hast’s gefühlt, leg’ schnell sie wieder hin:
322 
Der Putz ist keusch wie die Gebieterin.
 
323 
Doch all solch schwach Verbot kann ihn nicht stören,
324 
Er giebt den schlimmsten Sinn der Störung nur;
325 
Nicht Thüre, Wind, noch Handschuh darf ihm wehren:
326 
Er sieht in Allem nur des Zufalls Spur,
327 
Gewichte gleichsam, die die Stundenuhr
328 
Im Lauf verzögernd hemmen, bis der Stunde
329 
Die Schuld bezahlt hat jegliche Secunde.
 
330 
Stets, sprach er, wird Verzug die Zeit begleiten,
331 
Wie schwache Fröste noch im Frühling dräu’n,
332 
Daß um den Lenz sich höh’re Freuden breiten,
333 
Den Sang die Vögel fröhlicher erneu’n;
334 
Für Köstliches darf man Gefahr nicht scheu’n;
335 
Es droh’n Piraten, Stürme, Furcht zu stranden
336 
Dem Kaufmann, eh’ er reich daheim darf landen.
 
337 
Des Zimmers Thür hat er nunmehr erreicht,
338 
Die ihn vom Himmel seiner Wünsche trennt;
339 
Nichts mehr als eine Klinke, die bald weicht,
340 
Verschließt ihm, was sein höchstes Gut er nennt;
341 
Und so Gottlosigkeit sich selbst verkennt,
342 
Daß er vom Himmel seine Beut’ erfleht,
343 
Als werd’ der Sünd’ erhört dort ihr Gebet.
 
344 
Doch während seiner unfruchtbaren Bitten,
345 
Die zu den ew’gen Mächten kühn sich wenden,
346 
Daß sich die Schön’ ergeb’ unreinen Sitten,
347 
Und sie zur günst’gen Stund’ ihm günstig ständen,
348 
Fährt mit dem Ruf er auf: Ich muß sie schänden!
349 
Die Mächte, die ich bitte, müssen scheu’n
350 
Die That, – wie können sie mir Hülfe leih’n?
 
351 
Drum Glück und Lieb’, ich folge eurem Rath!
352 
Den Willen unterstützt entschloss’ner Muth;
353 
Gedanken sind nur Träume, fehlt die That,
354 
Die schwerste Sünd’ ist, wenn verziehen, gut;
355 
Drum Eis der Furcht, schmilz an der Liebe Gluth,
356 
Des Himmels Aug’ erlosch, und düstre Nacht
357 
Deckt süße Lust und Scham, wenn wir erwacht.
 
358 
Nun hebt die Sünderhand die Klink’ empor,
359 
Und öffnet mit dem Knie die Thüre weit;
360 
Die Taube schläft, die diese Eul’ erkor,
361 
Verrath, eh’ man Verräther sieht, gedeiht.
362 
Wer eine Schlang’ erblickt, der springt bei Seit’, –
363 
Doch sie, den Todesstich nicht ahnend, liegt
364 
Ihm Preis gegeben, süß in Schlaf gewiegt.
 
365 
In ihre Kammer bösen Sinnes schleichet
366 
Er jetzt, und sieht ihr Bett, noch unentweiht;
367 
Nicht von dem fest geschloss’nen Vorhang weichet
368 
Sein gierig Aug’, das wild im Kopfe dräut,
369 
Und seinem Herzen mit Verrath gebeut,
370 
Die Hand nach jenen Wolken auszustrecken,
371 
Die dieses Mondes Silberglanz verdecken.
 
372 
Wie, wenn den Wolken sich die Sonn’ entwindet,
373 
Ihr Feuerstrahl uns raubet das Gesicht,
374 
So auch beginnt, als die Gardine schwindet,
375 
Sein Aug’ zu blinzeln in dem hellen Licht:
376 
Sei’s nun, daß es den Glanz, der sie umflicht,
377 
Nicht tragen kann, sei’s daß ihn Scham beschlich,
378 
Genug, blind ist es und nicht öffnet’s sich.
 
379 
Warum, ach! starb’s in dunk’ler Haft nicht hin?
380 
Dann sah’s nicht selbstgeschaffne böse Zeiten!
381 
Dann ruht in reinem Bette Collatin
382 
Noch glücklich wieder an Lucretiens Seiten;
383 
Doch mußt’s aufgehend Untergang bereiten
384 
Dem keuschen Bund, und diesem Blicke muß
385 
Die Heil’ge opfern Leben und Genuß.
 
386 
Die Lilienhand liegt unter Rosenwangen,
387 
Wo sie rechtmäß’gen Kuß dem Kissen raubt:
388 
In Hälften dies, auf jeder Seit’ zergangen,
389 
Schwillt zornig auf, weil es gekürzt sich glaubt;
390 
Und zwischen seinen Hügeln ruht ihr Haupt.
391 
So liegt sie wie ein Denkmal da der Tugend,
392 
Und dient zur Augenlust unheil’ger Jugend.
 
393 
Die andre Hand ruht auf der grünen Decke
394 
Außer dem Bett, und ihre Weiße lacht
395 
Wie im April Schneeglöckchen an der Hecke,
396 
Beperlt mit Schweiß, als wie vom Thau der Nacht;
397 
Gleich Sonnenblumen liegt der Augen Pracht
398 
In dunkler Hülle, bis sie sich erschließen,
399 
Und auf den Tag ein hellres Licht ergießen.
 
400 
Im Athem steigt ihr goldnes Haar und fällt!
401 
Welch’ üpp’ge Zucht, welch’ zücht’ge Ueppigkeit!
402 
Triumph des Lebens zeigt’s im Todesfeld,
403 
Zeigt düstern Tod in Lebens Sterblichkeit;
404 
In ihrem Schlaf verschönern sie sich beid’,
405 
Als ob es Zwist nicht zwischen ihnen gäbe,
406 
Leben im Tod und Tod im Leben lebe.
 
407 
Der Busen, eingehegt mit blauen Banden,
408 
Gleicht zweien unbesiegten Liliengloben,
409 
Die nur im Gatten ihren Sieger fanden,
410 
Und ihm allein auch Treue angeloben.
411 
Tarquin’s Begier wird nur durch sie gehoben;
412 
Er gleicht dem bösen Räuber einer Krone,
413 
Und sinnt, wie er den Eigner stürzt vom Throne.
 
414 
Was konnt’ er seh’n, das er nicht mußt’ betrachten,
415 
Und was betrachten, das er nicht begehrt’?
416 
Sein Auge blickt und muß nach Allem schmachten,
417 
Daß es vor Müdigkeit sich schon empört.
418 
Zu hohem Staunen wird sein Blick vermehrt
419 
Von ihrer Haut, azurner Adern Wallen,
420 
Dem Grübchenkinn, den Lippen von Korallen.
 
421 
Wie auf dem Raub der Löwe steht, – das Glüh’n
422 
Der Siegeslust stillt fast des Hungers Gier, –
423 
So steht bei dieser Schlafenden Tarquin,
424 
Das Anschau’n dämpft die Wollustgluth auch hier;
425 
Doch wird sie nicht gelöscht, denn wie er ihr
426 
Zur Seite steht, wirft Aufruhr in die Adern
427 
Sein Aug’ ihm, das schon erst begann zu hadern.
 
428 
Und denen – gleich hartherzigen Vasallen
429 
Und Knechten, die für Beute nur sich schlagen,
430 
Die sich in Mord und Schändung wohlgefallen,
431 
Mit Mutterthränen kein Erbarmen tragen –
432 
Schwillt nun der Stolz; sie wollen Alles wagen,
433 
Sobald der Herzschlag Angriffszeichen giebt,
434 
Und thun sie läßt, was ihnen dann beliebt.
 
435 
Sein Aug’ erfrischt sich an des Herzens Schlagen,
436 
Es dienet dann zur Leitung seiner Hand;
437 
Und diese, stolz so große Ehr’ zu tragen,
438 
Nimmt dann schweißtriefend, eilig ihren Stand
439 
Auf nackter Brust, Herz ihrem ganzen Land.
440 
Die Thürmchen, als die Hand sie stürmt, erblassen
441 
Von ihren blauen Aderreih’n verlassen.
 
442 
Sie zieh’n, sich sammelnd, in die stille Kammer,
443 
Wo ihre liebe Herrin, Herrschrin, liegt,
444 
Und melden, was gescheh’n mit lautem Jammer.
445 
Sie, die ob der Verwirrung wild erschrickt,
446 
Schlägt ihr geschloss’nes Aug’ auf und erblickt
447 
Bestürzet den Tumult; doch schnell auch wendet
448 
Sie’s ab, von seiner Fackel Licht geblendet.
 
449 
Um Mitternacht, von Phantasie’n gerüttelt
450 
Denk’ eine Frau dir aus des Schlafes Tod,
451 
Sie wähnt, und jedes Glied wird ihr geschüttelt,
452 
Von grausigem Gespenste sich bedroht:
453 
Wie schrecklich das – sie ist in größrer Noth!
454 
Der Schlafgestörten stellt ein Bild sich dar,
455 
Das macht des Traums vermeinte Schrecken wahr.
 
456 
Sie liegt von tausend Aengsten wirr befangen,
457 
Dem Vogel gleich, der kaum dem Schuß erlegen,
458 
Wagt nicht zu seh’n, doch blinzelnd scheint der Bangen,
459 
Das Aug’ anwidernd, etwas sich zu regen:
460 
Wie geistesschwache Schatten dichten mögen,
461 
Die, zürnend, daß die Augen sich verschließen,
462 
Als Schreckgebllde Nachts vorüberschießen.
 
463 
Die Hand, die auf dem Busen ihr geblieben,
464 
Ein rauher Sturmbock solchem Marmorwall –
465 
Fühlt drin das Herz verwundet, sich betrüben,
466 
Fühlt, wie’s emporsteigt, fühlet seinen Fall;
467 
Sie selber wird erschüttert durch den Schall. –
468 
Das steigert seine Gluth, heißt Mitleid schweigen,
469 
Heißt Bresch’ ihn legen und die Burg ersteigen.
 
470 
Die Zunge, wie Trompete zum Beginn,
471 
Ruft auf den bangen Feind, sich zu vertragen;
472 
Der hebt aus weißer Deck’ ein weißres Kinn,
473 
Nach unbefugten Lärmens Grund zu fragen;
474 
Den schweigend er erklärt durch sein Betragen:
475 
Doch auf die Fahne dringt sie nun mit Fleh’n,
476 
In deren Farbe Unbill ihr gescheh’n.
 
477 
Er spricht: „Die Farb’ in deinem Angesicht,
478 
Deß Weiße selbst die Lilie beneidet,
479 
Deß Röthe selbst der Rosengluth gebricht,
480 
Sie ist es, die für meine Liebe streitet;
481 
Das ist die Fahne, die zu dir mich leitet,
482 
Zum Sturm auf deine Burg; die Schuld ist deine,
483 
Dein eignes Aug’ verrieth dich an das meine.
 
484 
So straf’ ich deinen Grund zum Schelten Lügen,
485 
Die eigne Schönheit gab dir diese Nacht;
486 
Du mußt in ihr dich meinem Willen fügen,
487 
Ihm, der zu meiner Erdenlust dich macht;
488 
Den ich umsonst bekämpft mit aller Macht:
489 
Denn als Vernunft ihn und Verweis beschworen,
490 
Ward er durch deine Schönheit neu geboren.
 
491 
Ich weiß, Unheil wird mir mein Angriff bringen,
492 
Ich seh’ den Stachel, der beim Honig wacht;
493 
Der Dornen denk’ ich, die die Ros’ umringen:
494 
Dies Alles hat die Einsicht wohl bedacht;
495 
Doch läßt der taube Will’ es außer Acht,
496 
Nur Augen hat er, Schönheit anzustaunen,
497 
Und folgt, trotz Recht und Pflicht, des Blickes Launen.
 
498 
In tiefster Seel’ hab’ ich das Leid erwogen;
499 
Den Gram, die Schande, die mein Thun gebäre,
500 
Doch nichts bezwingt der wilden Neigung Wogen,
501 
Nichts, das der Wuth achtlosem Stürmen wehre.
502 
Ich weiß, es folgt der That der Reue Zähre,
503 
Schmach, Vorwurf folgt, Todfeindschaft dem Vollbringen,
504 
Doch streb’ ich, eigne Schande zu erringen.“
 
505 
Und damit schwingt er hoch die Römerklinge,
506 
Die wie der Falke, der zum Himmel steigt,
507 
Den Vogel drunten bannt in Nacht der Schwinge,
508 
Weil, hebt er sich, der Schnabel Tod ihm zeigt.
509 
So unter Schwertes Dräu’n ohnmächtig beugt
510 
Lucretia sich; sie weiß, was er begehrt,
511 
Ein Vogel, der des Falken Glocke hört.
 
512 
Lucretia“, spricht er, „mein bist du die Nacht,
513 
Und weigerst du’s, bricht die Gewalt mir Bahn;
514 
Du wirst von mir im Bett hier umgebracht,
515 
Der niedern Sclaven einen würg’ ich dann,
516 
Und Ehr’ und Leben wird dir abgethan;
517 
An deine todte Brust werd’ ich ihn legen,
518 
Und schwören: dort traf ihn mein rascher Degen.
 
519 
So wird zur Schmach dein Mann dich überleben,
520 
Ein Ziel des Hohnes jedem Auge sein;
521 
Was dir verwandt, darf nie das Haupt erheben,
522 
Die Kinder wird der Bastardnam’ entweih’n,
523 
Und dir, der Schande Stifterin, im Reim
524 
Wird dein Vergeh’n dir lange noch erklingen,
525 
Und Kinder werden’s spätern Tagen singen.
 
526 
Doch giebst du nach, bleib’ ich, dein Freund, verschwiegen,
527 
Verschwiegne Schuld ist Schuld, die nicht verübt.
528 
Ein kleiner Fehl muß gutem Zweck sich fügen,
529 
Auch wird, was recht ist, dadurch nicht getrübt;
530 
Selbst das, was einfach giftig ist, das giebt,
531 
Wenn wir’s mit reinen Stoffen nur verbinden,
532 
Als heilsam sich, und läßt das Gift entschwinden.
 
533 
Um Gatten, Kinder willen hör’ mein Werben;
534 
Nicht Schmach, von der kein Kunstgriff sie befreit,
535 
Nicht einen Vorwurf lasse sie ererben,
536 
Der nie vergessen wird, der schlimmer weit
537 
Als Sclavenmal sich und Geburtsmal beut.
538 
Denn Mäler, die Natur uns giebt als Zeichen,
539 
Die können uns zur Schande nicht gereichen.“
 
540 
Mit Basiliskenblick, der Tod andräu’t,
541 
Rafft er sich auf und läßt die Rede schwinden;
542 
Und sie, das Bild der reinsten Frömmigkeit,
543 
Wie in des Geiers Klau’n die weiße Hindin
544 
In rauher Oede, wo kein Recht zu finden,
545 
Fleht zu dem Thiere, das Gesetz nicht ehrt,
546 
Und nur auf seine niedre Lüste hört.
 
547 
Wie wenn auf Fluren droh’nde Wolken hängen,
548 
In feuchte Nebel hüllen Bergeshöh’n;
549 
Dann von der Erd’ sie sanfte Lüftchen drängen,
550 
Die, theilend, ihren dichten Dunst verweh’n,
551 
Und wir den nahen Fall gehindert seh’n:
552 
So scheint es, daß ihr Wort die Gluth ihm kühlt,
553 
Wie Pluto mürrisch blinzt, wenn Orpheus spielt.
 
554 
Doch, eine nächt’ge Katze, treibt er Scherz
555 
Nur mit der Maus, die schwach der Kralle wehrt,
556 
Ihr traurig Müh’n ergötzt sein Geierherz,
557 
Ein Strudel, der im Ueberfluß entbehrt;
558 
Ihr Flehen hat ein Ohr, kein Herz gehört;
559 
Die Thränen sind’s, die Gier zu schärfen pflegen,
560 
Doch weicht selbst Marmor endlich langem Regen.
 
561 
Betrübt in sein Gesicht, von Grausamkeit
562 
Durchfurcht, ihr mitleidflehend Auge blickt;
563 
Ihr sittsam Wort hat Seufzer zum Geleit,
564 
Was ihre Red’ mit größrer Anmuth schmückt;
565 
Oft wird von seinem Ort der Satz verrückt,
566 
Und wie die Stimm’ ihr bei der Red’ oft bricht,
567 
Beginnt sie zweimal, eh’ sie einmal spricht.
 
568 
Bei Zeus beschwört, dem mächtigen, dem hehren,
569 
Bei Ritterthum sie ihn und Freundschaftseiden
570 
Bei ihren Thränen, ihres Gatten Ehren,
571 
Bei Menschenrecht und Treu’, den allgeweihten,
572 
Bei Erd’ und Himmel und der Macht von beiden.
573 
Heim in sein Bett, das gastliche, zu kehren,
574 
Auf Ehre, nicht auf schnöde Lust zu hören.
 
575 
O wolle nicht, wie du dir vorgesetzt,
576 
Mit schwarzer That die Gastfreundschaft beschenken!“
577 
Spricht sie, „trüb’ nicht den Quell, der dich geletzt:
578 
Was nie zu bessern, wolle nimmer kränken,
579 
Noch kannst den Schuß von schlechtem Ziel du lenken;
580 
Verächtlich ist der Schütz, der je den Bogen
581 
Auf eine arme Hindin angezogen.
 
582 
Mein Mann ist Freund dir, seinethalb verschon’ mich,
583 
Um deinetwillen laß mich unverzüglich,
584 
Du stark, ich schwach, verstricke nicht in Hohn mich,
585 
Du gleichest nicht Betrug, drum nicht betrüg’ mich;
586 
Mein Seufzen gern, wie Wirbelwind, forttrüg’ dich;
587 
Konnt’ Weiberklage je dem Manne wehren,
588 
So sei gerührt von meinen Seufzern, Zähren,
 
589 
Die, gleich dem aufgeregten Weltmeer, schlagen
590 
An Brust und Herz dir, die mir Schiffbruch dräu’n,
591 
Sie zu besänftigen durch stetes Klagen;
592 
Zu Wasser wird ja, lös’t man ihn, der Stein,
593 
O! willst du härter noch als Kiesel sein?
594 
An meinen Thränen schmilz’, laß Mitleid sehen,
595 
Mitleid kann ja durch Eisenthüren gehen.
 
596 
Im Bild Tarquin’s betrogst du meine Laren,
597 
Du gehst, zur Schmach ihm, als Tarquin einher!
598 
Ich klag’ dich an vor allen Himmelsschaaren;
599 
Du thust ihm weh’, an Fürstennam’ und Ehr’.
600 
Du bist nicht, was du scheinst, und wenn es wär’,
601 
Scheinst du nicht, was du bist; das Scepter führen
602 
Soll, Göttern gleich, der Fürst und recht regieren.
 
603 
Im Alter, welche Frucht soll Schmach dir tragen,
604 
Wenn so dein Laster keimt im Lenze schon?
605 
Kannst du, in Hoffnung noch, so Böses wagen,
606 
Was wagst du einst, wenn auf dem Königsthron?
607 
O denk’ daran, daß selbst vom Knecht der Hohn
608 
Der Missethat nicht abgewaschen werde;
609 
Nie birgt des Königs böse That die Erde.
 
610 
Die That wird Lieb’ dir nur aus Furcht eintragen,
611 
Da gute Fürsten Furcht durch Lieb’ erringen.
612 
Gezwungen duldest du, was Andre wagen,
613 
Wenn sie Beleidigung an dir vollbringen.
614 
Schon darum such’ den Willen zu bezwingen;
615 
Denn Fürsten sind für Unterthanenaugen
616 
Das Buch, die Schule, draus sie Lehren saugen.
 
617 
Willst du die Schule sein, wo Wollust lerne?
618 
Das Buch, wo sie zum Schänden Lehre finde?
619 
Willst du der Spiegel sein, in dem sie gerne
620 
Vollmacht zur Unthat sieht, Bürgschaft der Sünde?
621 
Willst du, daß Schand’ in dir ihr Recht begründe?
622 
Mit dir beut Schmach dann ew’gem Ruhm die Stirne,
623 
Und guten Ruf machst du zur feilen Dirne.
 
624 
Ward dir Gewalt? durch den, der sie verlieh,
625 
Vertreibe Böses aus des Herzens Falten!
626 
Und nicht dein Schwert zum Schutz des Lasters zieh’,
627 
Zu tödten diese Brut, hast du’s erhalten!
628 
Wie könntest du dies Fürstenamt verwalten,
629 
Wenn man die schnöde Sünde sagen hörte:
630 
Er war es, der des Lasters Pfad mich lehrte!
 
631 
Welch niedrig Schauspiel, denk’, würd’ es dir sein,
632 
Ließ’ dein Vergeh’n bei Andern sich entdecken!
633 
Der Mensch sieht selten eigne Fehler ein,
634 
Da er parteiisch will die Schuld verstecken;
635 
Dies schien’ im Bruder selbst todwürd’ger Flecken;
636 
O wie sind sie in Schande tief gerathen,
637 
Die seitwärts seh’n bei eignen Missethaten!
 
638 
Zu dir laß mich, mit aufgehobnen Händen,
639 
Zu deiner Lust nicht, der verführend blinden,
640 
Um Rückruf ferner Majestät mich wenden.
641 
Sie kehr’ zurück, und Truggedanken schwinden;
642 
Ihr Anseh’n wird die falschen Triebe binden,
643 
Vom Nebel dein bethörtes Auge rein’gen,
644 
Dir deinen Zustand zeigen, Trost dem mein’gen.“
 
645 
Genug“! ruft er, „die unbezwungne Fluth
646 
Weicht nicht zurück, schwillt höher nur am Wehr;
647 
Ein Lichtchen bläs’t sich aus, nicht Flammengluth,
648 
Beim Winde gährt und wüthet sie nur mehr;
649 
Das winz’ge Flüßchen, das dem salz’gen Meer
650 
Tribut bezahlt, kann durch sein rasches Fließen
651 
Die Fluth wohl mehren, doch sie nicht versüßen.“
 
652 
Du bist“, spricht sie, „ein König, bist ein Meer,
653 
Doch sieh’, in deine wilden Wogen gießen
654 
Sich brausend schwarze Wollust, Schand’, Unehr’,
655 
Die Schmutz in deines Blutes Wellen ließen.
656 
Sollt’ in dein Gutes all dies Schlechte fließen,
657 
Dann wird das Meer in eine Pfütze fallen,
658 
Nicht hin zum Meer die schwache Pfütze wallen.
 
659 
Zu Fürsten mach’ die Sclaven, sink’ hinab
660 
Erniedrigt du zum Sclaven, sie erhöht;
661 
Ihr heitres Leben, sei es dir das Grab,
662 
In Schmach sei du, in Hoheit sie verschmäht!
663 
Ist’s recht, daß Niedriges vor Hohem steht?
664 
Die Ceder bückt sich nicht zu niedern Knorren,
665 
Nein, ihr zu Füßen müssen sie verdorren!
 
666 
Drum deine Sinne, diese Knechte, laß –“
667 
Nichts mehr, beim Himmel!“ ruft er, „will ich hören;
668 
Ergieb der Liebe dich, sonst soll mein Haß,
669 
Statt sanfter Liebe Druck, dich rauh zerstören;
670 
Ist das gescheh’n, will ich, dich zu entehren,
671 
Mit dir zum Bette schlechten Knechtes eilen,
672 
Und Tod soll der, schmachvollen, mit dir theilen!“
 
673 
Er spricht’s – schon löscht sein Fuß der Fackel Schein,
674 
Denn Lust und Acht sind auf den Tod entzweit,
675 
Hüllt Sünde sich in nächtlich Dunkel ein,
676 
Uebt, wen’ger sichtbar, sie mehr Grausamkeit.
677 
Der Wolf erfaßt den Raub, das Lämmchen schreit,
678 
Bis ihr Geschrei, vom eignen Vließ erdrückt,
679 
Hinstirbt, im eignen süßen Mund erstickt.
 
680 
Denn er, zu wehren ihren Jammertönen,
681 
Ihr mit dem Nachtgewand das Haupt bedeckt,
682 
Und kühlt sein Angesicht in ihren Thränen,
683 
Die ihr im keuschen Auge Gram erweckt.
684 
Daß Wollust so ihr reines Bett befleckt!
685 
Könnt’ Weinen seine Flecken nur verdrängen,
686 
Mit ew’gen Thränen würde sie’s besprengen.
 
687 
Ach! sie verlor, was mehr ihr werth als Leben,
688 
Und er gewann, was gern er möcht’ entbehren.
689 
Erzwungner Bund muß neuen Zwiespalt geben,
690 
Die kurze Freude Monatspein gebären.
691 
Der heiße Wunsch sich kalt in Abscheu kehren:
692 
Die reine Keuschheit ihren Schatz verlor,
693 
Die Lust, der Dieb, ist ärmer als zuvor.
 
694 
Wie Falk’ und Jagdhund, wenn sie übersatt,
695 
Zum Fliegen und zum Wittern ungeschickt,
696 
Die Beute lassen, oder doch nur matt
697 
Verfolgen mögen, was sie sonst beglückt:
698 
So wird nun von der Nacht Tarquin erdrückt,
699 
Sein Vollgenuß, ihm herbes Nachweh’ bringend,
700 
Den Willen, der verschlingend lebt’, verschlingend.
 
701 
O Sünde, tief, daß nimmer bis zu ihr
702 
Die regste Phantasie kann niedersteigen!
703 
Ausspeien muß, was sie empfing, die Gier,
704 
Noch eh’ sich ihr die eigne Schmach kann zeigen.
705 
Kein Zuruf wird die heiße Wollust beugen;
706 
Nichts zügelt sie, wenn sie begehrend wüthet,
707 
Bis, wie der Gaul, sie durch sich selbst ermüdet.
 
708 
Und dann entfärbt und matt, mit bleichen Wangen,
709 
Mit trübem Aug’ und mit geschwächtem Schritt,
710 
Beweint den Fall demüthig das Verlangen,
711 
Gleich einem Reichen, der Bankrott erlitt.
712 
Da stark das Fleisch, es keck mit Schönheit stritt,
713 
In der es schwelgt; doch wenn das schwach vergeht,
714 
Der schuldige Rebell um Gnade fleht.
 
715 
So muß Roms schuld’ger Herrscher sich nun finden,
716 
Er steht am Ziel, das glühend er begehrt;
717 
Nun muß er selbst sein Urtheil sich verkünden:
718 
Durch aller Zeiten Lauf sei er entehrt,
719 
Der Seele schöner Tempel ihm zerstört;
720 
Und Sorgenschaaren zieh’n zu dessen Trümmern,
721 
Durch Fragen die befleckte zu bekümmern.
 
722 
Sie spricht: der Unterthanen schnödes Wagen
723 
Hab’ ihr zertrümmert ihren heil’gen Wall,
724 
Ihr die Unsterblichkeit in’s Joch geschlagen
725 
Durch ird’sche Sünden, und als Sklavin fall’
726 
Lebend’gem Tod sie heim und ew’ger Qual:
727 
Sie habe längst all das vorhergesehen,
728 
Und dennoch nicht vermocht zu widerstehen.
 
729 
So denkend schlich er fort in finstrer Stunde,
730 
Ein Sieger, der besiegt den Sieg bereut,
731 
Und trägt in sich die unheilbare Wunde,
732 
Von deren Narb’ ihn keine Kunst befreit;
733 
Doch läßt er seine Beute größerm Leid:
734 
Sie trägt die Bürde seiner schnöden Lust;
735 
Er Geistes Last, denn er ist schuldbewußt.
 
736 
Er kriecht, gleich einem dieb’schen Hund, von hinnen,
737 
Sie liegt, ein müdes Lamm; ihr Herz, es bricht;
738 
Er haßt und schmäht sein sündiges Beginnen,
739 
Sie gräbt die eignen Nägel in’s Gesicht;
740 
Er flieht, schweißtriefend von der Schuld Gewicht,
741 
Sie bleibt, verwünscht die Marternacht mit Flüchen;
742 
Er eilt und schilt auf Freuden, die erblichen.
 
743 
Er zieht von dannen, schwor die That zu büßen,
744 
Sie bleibt zurück, die hoffnungslos verloren;
745 
Er sehnet sich, das Morgenlicht zu grüßen,
746 
Sie hat, den Tag nicht mehr zu seh’n, geschworen;
747 
Denn“, spricht sie, „Tag deckt auf, was Nacht geboren,
748 
Und nie hat es mein Aug’ versucht, die Flecken
749 
Mit listerfahrner Stirne zu bedecken,“
 
750 
Er glaubt, daß diese Schmach, die ihm bekannt,
751 
Auch keinem andern Auge sich verhehle;
752 
Drum hält er gern im Dunkel seinen Stand,
753 
Daß Niemand ungesehne Schuld erzähle:
754 
Denn Thränen sprächen selbst von meinem Fehle,
755 
Und grüben mir, wie Wasser Stahl zerstört,
756 
Den Wangen ein die Schmach, die mich verzehrt.“
 
757 
Sie schilt auf Ruh’ und Rast in ihrem Schmerz,
758 
Gebeut den Augen ewiges Erblinden;
759 
Schlägt ihre Brust, erwecket so ihr Herz,
760 
Befiehlt ihm fortzueilen, aufzufinden
761 
Sich eine Hülle, die noch rein von Sünden,
762 
Und schmäht, vom Gram zur Raserei gebracht,
763 
So die verschwiegne Heimlichkeit der Nacht:
 
764 
O Nacht, trostwürgende! du Höllenbild!
765 
Du, jeder Missethat Auszeichnerin!
766 
Du schwarze Trauerbühne, morderfüllt!
767 
Du sündenbergende Ernährerin
768 
Der Laster, du verhüllte Kupplerin!
769 
Du Todeshöhle, flüsternd mit Verschwörern,
770 
Im Bunde mit Verrath und Fraunentehrern!
 
771 
Verhaßte Nacht, gefüllt mit gift’gen Dämpfen:
772 
Da mein unheilbar Fehl du konntst erzeugen,
773 
So wolle nun das Morgenlicht bekämpfen,
774 
Verwirr’ der Stunden wohlgeschloss’nen Reigen!
775 
Und läßt du doch hinauf die Sonne steigen,
776 
So woll’ ihr, eh’ sie sinkt, das Haupt umwinden,
777 
Das goldene, mit gift’gen Wolkenbinden!
 
778 
Mit faulem Dunst entweih’ die Morgenlüfte,
779 
Der Reinheit Urquell selbst, das höchste Schöne,
780 
Daß ungesunder Pesthauch es vergifte,
781 
Eh’ müd’ die Sonn’ an’s Mittagsziel sich lehne!
782 
Laß dichte Nebelreih’n so weit sich dehnen,
783 
Daß, raucherstickt, das Licht schon untergehe,
784 
Eh’s Mittag noch, und ew’ge Nacht entstehe!
 
785 
Tarquin (das Kind der Nacht), wenn Nacht er wär’,
786 
Die Kön’gin würd’ im Silberglanz er schänden;
787 
Nicht schauten die entehrten Zofen mehr,
788 
Die schimmernden, aus schwarzer Nacht Gewänden;
789 
Theilnehmer so an meiner Qual sich fänden:
790 
Genossenschaft im Leid wird Leiden lindern,
791 
Wie Wandrer plaudernd Wegeslänge mindern.
 
792 
Mir fehlen die, die dann mit mir erröthen,
793 
Die Arme kreuzen, ihre Häupter senken,
794 
Die Stirn verhüllen, Schutz der Schande böten;
795 
Allein muß ich die tiefe Schmach bedenken,
796 
Mit heller Thränen Fluth die Erde tränken,
797 
Und Zähren hier mit Seufzern still verbinden
798 
Für ew’gen Jammer, Mäler, die verschwinden.
 
799 
O Nacht, aufsteigend schmutz’gen Rauches Herd’,
800 
Zeig’ nicht dem neid’schen Tage mein Gesicht,
801 
Das, von der Schmach unbänd’ger Qual verheert,
802 
Im Schutze deines schwarzen Mantels liegt!
803 
O weich’ von deinem düstern Platze nicht,
804 
Daß die in deinem Reich begangnen Sünden
805 
Zugleich ihr Grab in deinem Schatten finden!
 
806 
O gieb mich nicht dem Tagsgeschwätze Preis!
807 
Das Licht giebt von der Keuschheit Falle Kunde;
808 
Mir in die Stirn geätzt ist’s, Jeder weiß
809 
Den bösen Bruch an heil’gem Ehebunde;
810 
Ja, Ungelehrte werden, aus dem Munde
811 
Gelehrter Bücher Räthsel aufzulösen
812 
Zu ungeübt, die That im Aug’ mir lesen.
 
813 
Mit meiner Sage stillt die Amm’ ihr Kind,
814 
Und schreckt die Knaben mit Tarquinens Namen;
815 
Der Redner, seine Red’ zu schmücken, spinnt
816 
Tarquinens Schand’ und mein Vergeh’n zusammen;
817 
Und wenn zum Festgelag die Sänger kamen,
818 
Dann singen sie, um Hörer anzuzieh’n,
819 
Wie mich Tarquin betrog, ich Collatin.
 
820 
Laß meines guten Namens stille Weihe
821 
Um Collatinens willen unbefleckt;
822 
Denn kommt im Zweifeln auch an ihn die Reihe,
823 
Sind Aeste fremder Wurzel angesteckt;
824 
Mit unverdienter Schmach wird er bedeckt,
825 
Er, rein von diesem Schimpf, den ich erlitten,
826 
So wie ich selbst bisher von reinen Sitten.
 
827 
O Schmach! Unsichtbar dem nur, der sie trägt,
828 
O Narbe, die, Stolz beugend, heimlich schwäret;
829 
Schandstempel, Collatinen aufgeprägt,
830 
Deß Umschrift, fern, Tarquinens Aug’ erkläret:
831 
Der ward im Frieden, nicht im Krieg versehret.
832 
Wie mancher muß Entehrungswunden tragen,
833 
Die er nicht kennt, nein der, der sie geschlagen!
 
834 
Sollt’ deine Ehr’ in mir, o Gatte, wohnen,
835 
Geraubt hat sie mir frecher Ueberfall;
836 
Hin ist mein Honig, gleich bin ich den Drohnen,
837 
Von meines Sommers Reichthum bin ich kahl,
838 
Da ruchlos plündernd mich ein Dieb bestahl;
839 
Denn eine Wesp’ hat, in den Korb gedrungen,
840 
Der keuschen Biene Honig dir verschlungen.
 
841 
Zwar trag’ ich Schuld am Schiffbruch deiner Ehren,
842 
Doch dir zur Ehr’ hieß ich ihn übernachten:
843 
Er kam von dir, konnt’ ich ihm Eintritt wehren?
844 
Entehrung war dir’s, wollt’ ich ihn nicht achten;
845 
Auch nannt’ er klagend sich den Ueberwachten,
846 
Und sprach von Tugend nur. – O wer sieht Leid,
847 
Wenn solcher Teufel Tugend frech entweiht!
 
848 
Wie brütet Guckucks Brut in Sperlingsnesten?
849 
Wie mag in Knospen schon der Wurm sich setzen?
850 
Wie reinen Quell der Kröte Gift verpesten?
851 
Wie Tyrannei in reine Brust sich ätzen?
852 
Wie sein Gesetz der König selbst verletzen?
853 
O, nichts Vollkommenes ist zu entdecken,
854 
Denn Fehler müssen jedes Gut beflecken!
 
855 
Der Greis häuft in den Kisten Goldes Haufen,
856 
Indeß er Schmerz und Krankheit dulden muß.
857 
Zum Anschau’n möcht’ er sich mehr Augen kaufen,
858 
Und sitzt verschmachtend doch wie Tantalus;
859 
Häuft seiner Klugheit Früchte mit Verdruß,
860 
Weil andre Freud’ ihm sein Gewinn nicht beut,
861 
Als Qual, daß er nicht heilen kann sein Leib.
 
862 
Er hat es erst, wenn’s ihm nicht nützt, in Händen,
863 
Und läßt es bald den Kindern zum Verwalten,
864 
Die schnell in ihrem Stolz es schlecht verwenden,
865 
Und – weil hier Schwäche fehlt, wie Kraft dem Alten, –
866 
Ihr fluchgesegnet Gut nicht lang behalten.
867 
Verwünschte Säure aus erwünschtem Süßen
868 
Wird’s gleich, wenn wir als unser es begrüßen.
 
869 
Den holden Lenz begleiten wilde Stürme,
870 
Bei schönen Blumen wächst das gift’ge Kraut,
871 
Wo Vögel singen, zischet auch Gewürme,
872 
Die Sünde stört, was Tugend aufgebaut,
873 
Es giebt kein Gut, dem sicher man vertraut:
874 
Gelegenheit ist Allem beigegeben,
875 
Die Schätzbarkeit ihm raubet oder Leben.
 
876 
Gelegenheit, o deine Schuld ist groß!
877 
Verräthern hilfst du den Verrath vollbringen,
878 
Du stellst dem Wolfe bald das Lämmchen blos,
879 
Bestimmst der Sünde Zeit für ihre Schlingen,
880 
Und machst Gesetz, Recht und Vernunft verklingen.
881 
In deiner dunkeln Zelle, ungeseh’n,
882 
Greift Sünde Seelen, die vorübergeh’n.
 
883 
Durch dich bricht die Vestalin ihre Weihe,
884 
Du schürst die Gluthen an, die Scham verletzen,
885 
Die Redlichkeit verstrickst du, mordest Treue,
886 
Verruf’ne Kupplerin, durch niedres Hetzen,
887 
Hilf’st Schande sä’n und guten Ruf zersetzen;
888 
Verrätherin, dein Honig wird zur Galle,
889 
Zu Leid und Kummer deine Freuden alle.
 
890 
Der heimlich stillen Lust folgt offne Schmach,
891 
Und offnes Fasten stillen Festlichkeiten,
892 
Zerrißner Name Schmeicheltiteln nach,
893 
Die süße Zung’ wird Wermuthstrank bereiten,
894 
Vergänglich nur sind deine Eitelkeiten;
895 
Gelegenheit, wie hast du’s angefangen,
896 
Da du so schlecht, daß Viele dich verlangen?
 
897 
Wann wirst du freundlich dich zum Armen wenden?
898 
Ihn leiten, wo die Bitt’ erhört mag sein?
899 
Wann Zeit erwählen, langen Zwist zu enden?
900 
Von Elendsketten Seelen zu befrei’n?
901 
Trost Leiden bringen, Kranken Arzenei’n?
902 
Wer arm und lahm und blind, er kriecht und schreit
903 
Zu dir, und trifft dich nie, Gelegenheit!
 
904 
Der Kranke stirbt, der Arzt, er schläft indessen;
905 
Die Waise darbt, weil sich ihr Dränger nährt;
906 
Die Wittwe weint, das Recht labt sich beim Essen;
907 
Es schwelgt der Rath, weil sich die Pest vermehrt;
908 
Zu milder That hast du nie Zeit gewährt,
909 
Doch wüthet Raub, Verrath und Mord, so dienen
910 
Gehorsam deine Schandthatsstunden ihnen.
 
911 
Bedarf die Tugend deiner Hülf’ und Treu’,
912 
Dann hindert tausendfach sie Schwierigkeit,
913 
Sie kaufet dich, die Sünd’ ist sportelfrei,
914 
Sie kommt umsonst, und du bist gern bereit,
915 
Du hörest und erfüllst, was sie gebeut;
916 
Gleich wie Tarquin, wär’ Collatin geeilt
917 
Zu mir, durch dich nur hat er sich verweilt.
 
918 
Schuld bist nur du an Mord und bösem Trug,
919 
Schuld an Empörung und an falschem Eid,
920 
Schuld an Verrath und Hinterlist und Lug,
921 
Schuld am Incest und jeder Schändlichkeit:
922 
Mitschuldige durch deine Willigkeit
923 
An Sünden, die vollbracht und noch gescheh’n,
924 
Vom Weltbeginn bis zum Weltuntergeh’n.
 
925 
Heillose Zeit! Genossin du der Nacht,
926 
Du Bote, listig schnell, daß Gram er bringe,
927 
Der Lüste Sclav’, der Jugend welken macht,
928 
Packpferd der Sünden du, der Tugend Schlinge,
929 
Du pflegest und vernichtest alle Dinge;
930 
O höre mich, betrügerische Zeit,
931 
Verschuld’ auch meinen Tod, wie schon mein Leid!
 
932 
Wie deine Sclavin, die Gelegenheit,
933 
Verrieth sie Stunden, mir zur Ruh’ gegeben;
934 
Zerstörte mir mein Glück, gab mich dem Leid,
935 
Endlosen Fesseln hin, die ewig leben.
936 
Das Amt der Zeit ist: Feindes Haß zu heben,
937 
Der Meinung Kind, dem Irrthum, soll sie wehren,
938 
Nicht frommen Bettes Morgengab’ verzehren.
 
939 
Der Ruhm der Zeit ist: Fürstenzwist beilegen,
940 
Entlarven Trug, an’s Licht die Wahrheit bringen,
941 
Der Vorzeit That den Stempel einzuprägen,
942 
Den Morgen wecken, Nacht mit Wach’ umringen,
943 
Ihr Unrecht zu vergüten, Zwinger zwingen,
944 
Dem Bau des Stolzes seine Dauer kürzen,
945 
Und seine Thürme tief in Staub zu stürzen;
 
946 
Mit prächt’gen Monumenten Würmer füttern,
947 
Vergessenheit mit dem Verfall der Dinge,
948 
Den Inhalt alter Bücher zu verwittern,
949 
Den Kiel zu zieh’n aus alter Raben Schwinge,
950 
Zu seh’n, daß Saft den jungen Sproß durchdringe,
951 
Am harten Stahl des Alterthums zu nagen,
952 
Das Wirbelrad des Glückes umzuschlagen.
 
953 
Laß ihre Enkel alte Frau’n betrachten,
954 
Zum Manne mach’ das Kind, den Mann zum Kinde,
955 
Den Tiger schlachte, der sich nährt vom Schlachten,
956 
Das Einhorn zähme, wilde Löwen binde,
957 
Den List’gen fang’ im eignen Truggewinde!
958 
Laß reicher Erndte sich den Landmann freu’n,
959 
Und höhl’ mit kleinen Tropfen aus den Stein!
 
960 
Warum auf deiner Wandrung Unheil mehren,
961 
Da Rückkehr, es zu bessern, sich nicht beut?
962 
Ein Augenblick, der dürfte wiederkehren,
963 
Erkaufte Freunde dir auf Lebenszeit,
964 
Dem Klugheit leih’nd, der schlechten Schuldnern leiht.
965 
Nur eine Stunde dieser Nacht voll Graus
966 
Gieb mir zurück, dem Schiffbruch wich’ ich aus.
 
967 
Laß, ew’ge Ewigkeitsbegleiterin,
968 
Tarquin auf seiner Flucht nur Unglück finden!
969 
Das Aeußerste des Aeußersten ersinn’:
970 
Laß ihn verfluchen diese Nacht der Sünden,
971 
Vor bleichen Schatten mag sein Aug’ erblinden,
972 
Ihn foltre seine böse That mit Grauen,
973 
Laß ihn in jedem Busch Gespenster schauen.
 
974 
Verstör’ ihm ruhelos der Ruhe Stunden,
975 
Laß ächzen ihn im Bett, ihn Schmerzen pein’gen,
976 
Auch dort ihn kläglich Mißgeschick verwunden,
977 
Das Seufzer auspreßt; tröste nicht die Sein’gen,
978 
Laß Herzen, härter noch wie Stein, ihn stein’gen;
979 
Der Frauen Sanftmuth und ihr milder Sinn
980 
Sei für ihn wilder, als die Tigerin.
 
981 
Vergönn’ ihm Zeit, daß er sein Haar verstreut,
982 
Vergönn’ ihm Zeit, sich wüthend selbst zu schmäh’n,
983 
Vergönn’ ihm Zeit, zu zweifeln an der Zeit,
984 
Vergönn’ ihm Zeit, als Sclaven sich zu seh’n,
985 
Vergönn’ ihm Zeit, bei Bettlern Brod zu fleh’n,
986 
Und Zeit, wo die, die selbst von Mitleid leben,
987 
Verschmäh’n, verschmähte Brocken ihm zum geben!
 
988 
Laß Zeit ihm, daß er Freund’ als Feinde sehe,
989 
Daß lust’ge Narr’n ihn höhnen im Verein;
990 
Und Zeit, zu seh’n, wie langsam Zeit vergehe
991 
Zur Zeit des Gram’s; mach’, daß ihm kurz erscheine
992 
Die Zeit der Lust und Lasters Zeit wie seine,
993 
Und seine unsühnbare Schuld laß dauern
994 
Für ewig, laß ihn Zeitmißbrauch betrauern.
 
995 
Zeit, Mutter du von Bös’ und Gut! mir gieb
996 
Flüche für den, den du gekonnt belehren;
997 
Am eignen Schatten werde toll der Dieb,
998 
Mag er, sich selbst zu tödten, stets begehren,
999 
Die selbst entehrte Hand mag ihn zerstören;
1000 
Denn wer ist sonst so feiggesinnt und schlecht,
1001 
Ein Henker sein zu wollen diesem Knecht?
 
1002 
Er sinkt noch tiefer, da er Königs Kind,
1003 
Wenn schlechte That die schöne Hoffnung bannt;
1004 
Je mächtiger der Mann, je mächt’ger sind
1005 
Die Ding’, wodurch er Ruhm und Schande fand,
1006 
Die größte Schmach folgt stets dem höchsten Stand;
1007 
Der Mond wird, decken Wolken ihn, vermißt,
1008 
Da man den Stern, verbirgt er sich, vergißt.
 
1009 
Wohl mag im schwarzen Schlamm die Krähe ruh’n,
1010 
Und fort mit unbemerktem Schmutze fliegen;
1011 
Doch will der weiße Schwan ein Gleiches thun,
1012 
Bleibt auf dem Silberflaum der Fleck ihm liegen.
1013 
Der Knecht ist Nacht, der Fürst des Tages Siegen;
1014 
Es achtet Niemand auf den Flug der Mücke,
1015 
Doch auf den Adler schauen Aller Blicke.
 
1016 
Schweigt, leere Worte, Diener seichter Narren!
1017 
Nutzlose Tön’, armselige Vermittler:
1018 
Dem Schulstreit mögt, mit Kenntniß, ihr euch sparen,
1019 
Dort zankt, wo Zeit dient tollen Zungenrittern;
1020 
Und da vermittelt, wo Clienten zittern:
1021 
Nicht halmeswerth Vernunftbeweis’ ich schätze;
1022 
Nicht Recht hilft meiner Lage, noch Gesetze.
 
1023 
Vergebens schimpf’ ich der Gelegenheit,
1024 
Der dunkeln Nacht, der Zeit, Tarquinen nach;
1025 
Vergebens gegen meine Schand’ ist Streit,
1026 
Vergebens trotz’ ich anerkannter Schmach.
1027 
Nicht Wortdurst ist’s, der mich entschuld’gen mag,
1028 
Kein Mittel giebt’s, das Hülfe mir verhieße,
1029 
Als daß mein Blut, das tief entehrte, fließe.
 
1030 
O Hand! warum bei dem Entschlusse beben?
1031 
Ehr’ selbst dich, mich von Schande zu befrei’n!
1032 
In dir wird, sterb’ ich, meine Ehre leben,
1033 
Doch meines Lebens Schand’ ist, leb’ ich, dein;
1034 
Da du nicht Schutz der Herrin konntest leih’n,
1035 
Zu feige warst, unzücht’gem Feind zu wehren,
1036 
So tödte dich und sie, für dies Gewähren!“
 
1037 
Sie springt aus dem zerwühlten Bette hier,
1038 
Um eine Todeswaffe aufzufinden:
1039 
Doch dies, kein Schlachthaus, nichts gewährt es ihr
1040 
Zu einem Thor, den Athem auszumünden,
1041 
Der durch die Lippen dringt, um zu verschwinden,
1042 
Wie Rauch vom Aetna in die Lüfte steigt,
1043 
Ihn beim Entladen die Kanone zeigt.
 
1044 
Ich leb’ umsonst, und such’ umsonst nach Wegen,“
1045 
Ruft sie, „zu enden schnell mein heillos Leben!
1046 
Vor Tod erbebt’ ich, vor Tarquinens Degen,
1047 
Und will zu gleichem Zweck nach Messern streben?
1048 
Ich war ein treues Weib noch beim Erbeben:
1049 
Ich bin es noch – ach nein, das ist nun hin!
1050 
Der Treue Zierde raubte mir Tarquin.
 
1051 
Ach! hin ist das, weshalb ich Leben schätze;
1052 
Drum darf ich fürchten nicht des Todes Bande.
1053 
Wenn ich den Flecken durch den Tod ausätze,
1054 
Geb’ Ehrenzeichen ich dem Schmachgewande,
1055 
Ein sterbend Leben der lebend’gen Schande.
1056 
Die Hülf’ ist schlecht, wenn Schätze fortgetragen,
1057 
Das Kästchen zu verbrennen, wo sie lagen.
 
1058 
Nie sollst du, theurer Collatin, erfahren
1059 
Den bitteren Geschmack verletzter Treu’!
1060 
Die Kränkung will ich deiner Liebe sparen,
1061 
Daß sie durch Eidbruch hintergangen sei.
1062 
Nein, nimmer dieses Bastardreis gedeih’,
1063 
Nie rühm’ er sich, der deinen Namen geschändet,
1064 
Daß Vaterlieb’ du seiner Frucht gespendet.
 
1065 
Nie höhn’ er in Gedanken heimlich dich,
1066 
Noch mit Gefährten spott’ er deiner Lage;
1067 
Du aber wisse, nicht dem Golde wich
1068 
Dein Heiligstes, entführt ward’s sicherm Hage.
1069 
Doch ich, ich bin die Herrin meiner Tage,
1070 
Und will mich vom Vergehen frei nicht sprechen,
1071 
Bis Leben zahlt dem Tod mein erst Verbrechen.
 
1072 
Ich will dich nicht mit meiner Schmach beflecken,
1073 
Nicht Ausflucht such’ ich, fein und klug erdacht,
1074 
Will nicht der Sünde Schwarz mit Farben decken,
1075 
Die Wahrheit bergen dieser falschen Nacht;
1076 
Kund Alles geb’ die Zung’, und mit der Macht
1077 
Des Bergstroms, der die Thäler tränkt, entladen
1078 
Sich Thränen dann, die schmutz’ge Mähr’ zu baden.“
 
1079 
Die Trauerklage Philomelens schwieg,
1080 
Es war verstummt ihr Wirbel nächt’ger Sorgen;
1081 
Zur Höll’ hinunter, trübe schleichend, stieg
1082 
Die finstre Nacht; da sieh’, der ros’ge Morgen
1083 
Leiht schönen Augen Licht, die gern es borgen:
1084 
Lucretia nur mag sich vor Scham nicht seh’n,
1085 
Und möchte traurig drum in Nacht vergeh’n.
 
1086 
Tag will sich, scheint’s, durch jede Spalte saugen,
1087 
Und sie, die Weinende, nur will er seh’n;
1088 
Doch sie seufzt auf zu ihm: „O Aug’ der Augen,
1089 
Was blickst du mir durch’s Fenster, laß das Späh’n,
1090 
Dein Strahl mag andre Augen kitzeln geh’n;
1091 
Nicht mir brandmark’ die Stirne, scharfes Licht,
1092 
Das Werk der Nacht bedarf des Tages nicht.“
 
1093 
So hadert sie mit Allem, was sie sieht;
1094 
Von tiefem Gram ist wohl das Kind ein Bild,
1095 
Dem, mürrisch einmal, nichts nach Sinn geschieht.
1096 
Verjährter Schmerz, nicht junger Harm, wird mild:
1097 
Indeß die Dauer jenen zähmt, wird wild,
1098 
Gleich ungeübten Schwimmern, dieser sinken
1099 
Und ungeschickt, zu viel sich müh’nd, ertrinken.
 
1100 
So in ein Meer von Sorgen tief versenket,
1101 
Lebt sie mit Allem, was sie sieht, im Streit;
1102 
Mit ihrem Gram vergleicht sie, was nur kränket,
1103 
Und Alles weckt des Kummers Heftigkeit;
1104 
Wenn Eines weicht, ist Andres gleich bereit:
1105 
Stumm ist ihr Kummer bald, und Wort’ entbehrend,
1106 
Bald wüthend, deren nur zu viel gewährend.
 
1107 
Der Vogel treibt mit frohem Morgengruß,
1108 
Süß tönendem, zum Wahnsinn ihre Klagen;
1109 
Denn Frohsinn wühlt zum Grund auf den Verdruß,
1110 
Nicht heitern Kreis kann trüber Sinn ertragen;
1111 
Bei Gram mag Gram am besten sich behagen;
1112 
Ein tiefes Leid fühlt sich nur da zufrieden,
1113 
Wo sich Gefühle gleicher Art ihm bieten.
 
1114 
Zwiefach stirbt der, der nah der Küst’ ertrinkt;
1115 
Der Speisen Anblick mehrt des Hungers Wuth;
1116 
Mehr schmerzt die Wund’, in die die Salbe dringt;
1117 
Es weckt den Gram, was man zum Trost ihm thut;
1118 
Ein tiefes Leid, es gleicht der stillen Fluth,
1119 
Die über’s Ufer schwillt, wird sie gedämmt;
1120 
Geneckter Gram nicht Maß noch Grenze kennt.
 
1121 
Spottvögel“, sagt sie, „laßt die Töne weichen,
1122 
Vergönnet in den Kehlen ihnen Rast!
1123 
Seid still und stumm, so weit mein Ohr kann reichen,
1124 
Mein ruheloser Kummer Freuden haßt;
1125 
Ein trüber Wirth erträgt nicht frohen Gast:
1126 
Mit heitrem Sang ergötzt ein frohes Ohr,
1127 
Betrübniß zieht die Trauertöne vor.
 
1128 
Komm Philomele, singe vom Entehren,
1129 
Mach’ dir mein wirres Haar zum Trauerhain!
1130 
Wie Thäler weinen, die dein Leiden hören,
1131 
Will ich an deine Klagen Thränen reih’n,
1132 
Und tiefe Seufzer dir zum Grundton leih’n;
1133 
Dumpftönend soll Tarquinens Nam’ einklingen,
1134 
Wenn du, kunstreicher, wirst von Tereus singen.
 
1135 
Du lehnst am Dornbusch dich, daß er dich ritze,
1136 
Um deinen herben Kummer aufzuwecken,
1137 
Ich will gleich dir des scharfen Messers Spitze
1138 
Auf’s Herz mir richten, um mein Aug’ zu schrecken,
1139 
Und blinzt es, soll sein Stoß mich niederstrecken.
1140 
Dies Mittel spannt zum Aushauch meiner Leiden,
1141 
Wie’s Instrument der Steg, des Herzens Saiten.
 
1142 
Doch, armer Vogel, nicht im Tagslicht möge
1143 
Ein Aug’ dich, wenn du singst, beschämend seh’n.
1144 
Laß eine dunkle Oede, fern vom Wege,
1145 
Wo Gluth nicht sengt, im Frost wir nicht vergeh’n,
1146 
Uns suchen; dort schwermüthig ernst ertön’
1147 
Den Thieren unser Lied, sie zu verwandeln,
1148 
Da Menschen viehisch, daß sie menschlich handeln.“
 
1149 
Wie aufgeschreckt ein Reh scheu um sich blicket,
1150 
Und wild, bedenket welchen Weg es flieh’,
1151 
Wie der, den wirr ein Labyrinth umstricket,
1152 
Die Bahn nicht findet, die er rüstig zieh’;
1153 
So mit sich selbst im Widerspruch ist sie,
1154 
Was vorzuzieh’n, ob Leben oder Tod,
1155 
Wo Schmach dem Leben, Schmach dem Tode droht.
 
1156 
Mich tödten“, spricht sie, „ach, Entehrung übt
1157 
Ich wie am Körper an der Seele dann!
1158 
Wer halb verliert, geduldiger ergiebt
1159 
Sich der, als dem Ruin sein Alles nahm.
1160 
Die Mutter kennt kein Mitleid, die im Gram,
1161 
Wenn von zwei süßen Kindlein eins erliegt,
1162 
Das andre tödtet, und nun keins mehr wiegt.
 
1163 
Geist oder Körper, welches schätzt’ ich höher,
1164 
Als dieser rein noch, jener göttlich schien?
1165 
Und wer von ihnen war in Lieb’ mir näher,
1166 
Geweiht dem Himmel beid’ und Collatin?
1167 
Ach! stolzer Pinie den Saft entzieh’n,
1168 
Macht, daß sie welke, daß ihr Saft verschwinde;
1169 
So meine Seel’, entkleidet ihrer Rinde.
 
1170 
Geplündert ist ihr Haus, die Ruh’ gestört,
1171 
Ihr Aufenthalt vom Feinde eingerannt,
1172 
Beraubt ihr heil’ger Tempel und entehrt,
1173 
Er ist von trotz’ger Schande frech umspannt.
1174 
Drum werd’ es nicht Gottlosigkeit genannt,
1175 
Wenn ich die schon gefallne Burg zerschlage,
1176 
Und fort die kummervolle Seele trage.
 
1177 
Doch sterb’ ich nicht, eh’ meines Todes Grund,
1178 
Des frühen, noch vernahm mein Collatin,
1179 
Daß Rach’ er schwör’, in meiner letzten Stund’
1180 
An dem, der mich zum Selbstmord trieb, an ihm,
1181 
Dem ich mein Blut vermache, an Tarquin;
1182 
Von dem’s befleckt ward, dem ich jetzt es spende,
1183 
Und ihm verschreib’ in meinem Testamente.
 
1184 
Und meine Ehre soll das Messer erben,
1185 
Das vom entehrten Körper mich befreit.
1186 
Zur Ehre wird’s, ist man entehrt, zu sterben;
1187 
Die Ehre wird mir durch den Tod erneut;
1188 
Ruhm ist’s, was meiner Schande Asche beut,
1189 
Durch meinen Tod werd’ ich den Hohn durchbohren,
1190 
Ist todt die Schmach, wird Ehre neu geboren.
 
1191 
Doch Herr des theuren Schmucks, der mir geraubt,
1192 
Welch Erbe, Theuerster, vermach’ ich dir?
1193 
Es ehre mein Entschluß dein liebes Haupt,
1194 
Das Vorbild deiner Rache find’ in mir.
1195 
Wie man Tarquin begegne, lies es hier:
1196 
Ich, Freundin, tödte deine Feindin, mich.
1197 
Dasselb’ erleid’ um mich Tarquin durch dich.
 
1198 
In Kürze so bestimm’ ich meinen Willen:
1199 
Sei Seel’ und Leib des Himmels und der Erde,
1200 
Mein Muth, er soll, mein Gatte, dich erfüllen,
1201 
Die Ehre sei des Stahls, der mich versehrte,
1202 
Die Schande deß, der meinen Ruf zerstörte;
1203 
Und all mein Ruhm, der lebt, ihn will ich schenken
1204 
All denen, die nicht schmähend mein gedenken.
 
1205 
Den Willen, Collatin, sollst du vollstrecken,
1206 
Nicht säh’st du ihn, trug ich wachsame Scheu!
1207 
Es soll mein Blut des Unglücks Schmach bedecken,
1208 
Mich mache Tod von Lebensschande frei.
1209 
Ermatte nicht, o Herz! sag’ fest: es sei!
1210 
Ergieb der Hand dich, ihr mußt du erliegen,
1211 
Und bist du todt, starbt beide ihr im Siegen.“
 
1212 
Als sie geordnet hat des Todes Plan,
1213 
Die salz’ge Perl’ im lichten Aug’ besiegt,
1214 
Heißt heiser, tonlos, sie die Zofe nah’n,
1215 
Die schnell gehorchend zu der Herrin fliegt;
1216 
Denn leicht beschwingt, wie Geistes Flug, ist Pflicht.
1217 
Der Magd erschienen so Lucretiens Wangen
1218 
Wie Winterwiesen, wenn der Schnee zergangen.
 
1219 
Sie beut der Herrin freundlich „Guten Morgen,“
1220 
Mit leiser Sprache der Bescheidenheit,
1221 
Und sieht mit Trauer der Gebietrin Sorgen,
1222 
Denn ach, ihr Antlitz trug des Kummers Kleid;
1223 
Nur fehlt zu fragen ihr die Dreistigkeit,
1224 
Warum ihr Sonnenpaar wolkenumhangen?
1225 
Warum so grambenetzt die schönen Wangen?
 
1226 
Doch wie die Erde weint beim Sonnensinken,
1227 
Daß jede Blum’ ein schmelzend Auge scheint,
1228 
Begannen Thränen bei der Magd zu blinken
1229 
Im runden Aug’, das um die Sonnen weint,
1230 
Die der Gebietrin Himmelsantlitz eint.
1231 
In salz’ger Fluth erlosch ihr Licht, das macht
1232 
Das Mädchen weinen, wie die thau’ge Nacht.
 
1233 
So ziemlich lang die schönen Wesen standen,
1234 
Cisternen gleich mit weißen Wasserröhren;
1235 
Mit Recht weint Eine, bei der Andern fanden
1236 
Sich Thränen nur, Gesellschaft zu gewähren.
1237 
Die Schönen leih’n gar willig ihre Zähren,
1238 
Und härmen sich, errathend Andrer Schmerz;
1239 
Es weint ihr Auge oder bricht ihr Herz.
 
1240 
Stein ist des Mannes, Wachs der Frauen Sinn,
1241 
Drum wie’s der Stein will, wird sich’s Wachs gestalten:
1242 
Die Schwache nimmt gedrückt von Freunden hin
1243 
Die Form, die Kunst ihr giebt und rohes Walten.
1244 
Wollt nicht für Schöpfrin ihres Fehls sie halten,
1245 
So wenig ihr’s dem Wachs zurechnen mögt,
1246 
Wenn’s eines Teufels Bildniß auf sich trägt.
 
1247 
Ihr sanft Gemüth, ein freundlich offnes Feld,
1248 
Läßt jedes Würmchen seh’n, das darauf kriecht;
1249 
Im Mann ein rauh verwachs’nes Dickicht hält
1250 
Das Bös’ umhüllt, das dort im Dunkeln liegt:
1251 
Kristallne Wand verbirgt auch Staub selbst nicht;
1252 
Wenn Männerschuld kühn finstre Blicke decken,
1253 
Ist’s Fraungesicht ein Buch für eigne Flecken.
 
1254 
Ach, nimmer der verwelkten Blume lache;
1255 
Den Winter, der die Blume tödtet, schilt;
1256 
Nicht das Zerstörte, den Zerstörer mache
1257 
Zum Ziel des Hohns. – O, sei es frei enthüllt,
1258 
Wenn Männer erst das Weib mit Schmach gefüllt,
1259 
Dann mögen sie, – o wie sind sie zu tadeln! –
1260 
Das Weib zur Trägrin ihrer Schuld entadeln.
 
1261 
Ein Beispiel dessen sieh’ Lucretia;
1262 
Wie Nachts sie, schwer von Schrecknissen bedrängt,
1263 
Den Tod hier vor sich sieht, dort Schande nah,
1264 
Die durch den Tod auf den Gemahl sich lenkt.
1265 
Am Widerstand Gefahr so drohend hängt,
1266 
Daß lähmend sie des Todes Grau’n anhauchen;
1267 
Und wer kann eine Leiche nicht mißbrauchen?
 
1268 
Lucretia begann nun mild zu sprechen,
1269 
Und wandt’ sich so zum Abbild ihrer Klage:
1270 
„Warum, mein Mädchen, weinst du? oder brechen
1271 
Dir von der Wange Thränenströme, – sage, –
1272 
Vor Gram um Leiden aus, die schwer ich trage?
1273 
Mein Kind, o könnten Thränen Schmerz besiegen,
1274 
So würden meine meinem Schmerz genügen!
 
1275 
Doch, Mädchen, sprich, wann zog (und hier versagt
1276 
Die Stimm’ ihr und sie seufzt) Tarquin von hinnen?“
1277 
„Ach, Herrin, eh’ ich wach“, versetzt die Magd,
1278 
Drum schalt ich trägste mich der Dienerinnen;
1279 
Doch mag mir dies wohl als Entschuld’gung dienen:
1280 
Lang war ich wach vor Tages Anbruch schon,
1281 
Und doch war, früher noch, Tarquin davon.
 
1282 
Doch, hohe Frau, wär’ deine Magd so dreist,
1283 
Sie würd’ um deine Schwermuth dich befragen.“
1284 
„O“, rief Lucretia, „still! ob du’s auch weißt,
1285 
Nicht läßt sich’s durch Erzählen leichter tragen:
1286 
Denn schwerer ist’s, als daß ich’s könnte sagen;
1287 
Wohl Hölle kann man diese Martern nennen,
1288 
Die mehr, als Menschensprache malt, mich brennen.
 
1289 
Geh’, bringe Dinte, Feder und Papier –
1290 
Doch halt, ich hab’ es ja, du magst nur weilen.
1291 
Was wollt’ ich doch? – Laß meine Sclaven mir
1292 
Sich fertig halten, schnell mit ein’gen Zeilen
1293 
Zu meinem lieben, theuren Herrn zu eilen:
1294 
Zur Reise sei die Rüstung schnell betrieben,
1295 
Die Sache heischt’s, und bald hab’ ich geschrieben.“
 
1296 
Als fort die Magd, will sie zum Briefeschreiben;
1297 
Doch wird vom Kiel nichts auf das Blatt gebracht,
1298 
Weil harten Kampf Gedank’ und Gram erst streiten;
1299 
Es löscht der Wille, was der Geist erdacht:
1300 
Das ist zu fein, zu plump ist das gemacht;
1301 
Gleich wie am Thore beim Gedräng’ von Wandrern,
1302 
Drängt ein Gedank’ um Vortritt hier den andern.
 
1303 
Zuletzt begann sie so: „Dir würd’gem Gatten
1304 
Unwürd’gen Weibes Gruß und Wohlergehn!
1305 
Du wollest, Lieber, gütig mir gestatten
1306 
(Willst du Lucretia noch, die deine, seh’n),
1307 
Um eiligsten Besuch dich anzufleh’n.
1308 
Aus unserm Trauerhause. – So empfehle
1309 
Ich kurz mich dir, mit schwer betrübter Seele.“
 
1310 
Hier faltet sie den Brief, worin ihr Wehe,
1311 
Ihr tiefes Leid sich schwankend offenbart:
1312 
Aus kurzem Zettel Collatin ersehe
1313 
Den Kummer zwar, doch nicht des Kummers Art,
1314 
Deren Entdeckung sie besorgt noch spart,
1315 
Daß nicht für eigne Missethat er’s achte,
1316 
Eh’ blut’ge Sühne noch ihr Blut vollbrachte.
 
1317 
Auch spart der Leidenschaft Gefühl und Leben
1318 
Sie bis dahin, wo er sie selber höre,
1319 
Wo Thränen dann und Seufzer Zierde gäben
1320 
Der Schande Kleid, und kräft’ger ihre Ehre
1321 
Vom Weltverdacht befrei’n, der sie beschwere:
1322 
Sie will den Brief mit Worten nicht beflecken,
1323 
Bis Thaten sühnend diese Worte decken.
 
1324 
Der Trauer Anblick seh’n spricht zum Gemüth
1325 
Viel mehr als hören blos; das Aug’ erklärt
1326 
Dem Ohr dann die Bewegung, die es sieht,
1327 
Wenn jeden Theil ein Theil des Leids beschwert;
1328 
Doch Theil nur bleibt’s des Schmerzes, was man hört.
1329 
Die seichte Furth rauscht mehr als tiefe See,
1330 
Und von der Worte Wind verstummt das Weh’.
 
1331 
Gesiegelt ist der Brief und überschrieben:
1332 
„Nach Ardea meinem Herrn mit schnellster Schnelle.“
1333 
Der Bote harrt, empfängt ihn, und getrieben
1334 
Zur Eile wird der mürrische Geselle,
1335 
Gleich wie der Nordsturm vor sich peitscht die Welle.
1336 
Eil’ über Eil’ ist lässig ihr und kühl,
1337 
Denn Leidenschaft kennt weder Maß noch Ziel.
 
1338 
Der ungelenke Sclave neigt sich tief,
1339 
Empfängt, indem er starrend auf sie sieht,
1340 
Erröthend, ohne Ja und Nein, den Brief,
1341 
Und mit verschämter Unschuld fort er zieht;
1342 
Doch Jeder meint, dem Schuld im Busen glüht,
1343 
Daß seine Schmach sich Aller Augen böte,
1344 
Sie glaubt, daß er ob ihrer Schand’ erröthe.
 
1345 
Bei diesem Knecht war’s Mangel nur gewesen
1346 
An Lebensklugheit, offner Dreistigkeit;
1347 
Wenn sich die Ehrfurcht solcher guten Wesen
1348 
In Thaten zeigt, verspricht mehr Eiligkeit
1349 
Ein Andrer frech, und thut‘s mit Lässigkeit:
1350 
So, Muster einer Zeit, die längst entschwand,
1351 
Gab offnen Blick der, Worte nicht zum Pfand.
 
1352 
Sein Feuereifer facht ihr Mißtrau’n an,
1353 
Daß Doppelgluthen Beider Antlitz sprüht;
1354 
Sie glaubt, er wisse, was Tarquin gethan,
1355 
Und da sie schärfer in’s Gesicht ihm sieht,
1356 
Bewirkt ihr Blick, daß heftiger er glüht;
1357 
Sie glaubt, je mehr das Blut zur Wang’ ihm steige,
1358 
So mehr sein Späh’n nach ihrer Schand’ es zeige.
 
1359 
Ihr scheint der Bote lange fortzubleiben,
1360 
Und doch verließ der Eil’ge kaum den Saal;
1361 
Sie weiß die trübe Zeit nicht zu vertreiben,
1362 
Denn Weinen, Seufzen, Aechzen ist ihr schaal:
1363 
Ihr Leid ist matt durch Leid, die Qual durch Qual,
1364 
Daß kurze Zeit sie absteht, sich zu plagen,
1365 
Und neue Mittel aufsucht, um zu klagen.
 
1366 
Da von dem Königssitze Priam’s fällt
1367 
Ein kunstreich Bild ihr ein, lang hängend schon.
1368 
Der Griechen Macht war vorne dargestellt,
1369 
Die um Helenens Raub Verheerung droh’n
1370 
Und Noth dem wolkennahen Ilion,
1371 
Deß Zinnen also kühn der Maler zeigte,
1372 
Daß sich der Himmel, schien’s, sie küssend neigte.
 
1373 
Wohl tausend traur’gen Gegenständen lieh’n,
1374 
Naturgetreu, des Künstlers Hände Leben:
1375 
Und manche schön gemalte Thräne schien
1376 
Die Gattin eines Todten kund zu geben;
1377 
Das rothe Blut rühmt laut des Malers Streben;
1378 
Manch sterbend Auge glimmt in mattem Licht,
1379 
Wie’s Nachts von ausgebrannten Kohlen bricht.
 
1380 
Schanzgräber sind hier rüstig auf den Beinen,
1381 
Von Staub und Schweiß und Sonne ganz berußt;
1382 
Von Troja’s Thürmen dort, lebendig scheinen,
1383 
Aus enger Schießschart’, Menschenaugen just
1384 
Auf’s Griechenheer zu schau’n, mit wenig Lust.
1385 
So strenger Fleiß war auf das Werk verwandt,
1386 
Daß Trauer ward im fernen Aug’ erkannt.
 
1387 
Man sieht der großen Führer Majestät
1388 
In ihrem Angesicht; der lebensreichen
1389 
Beherzten Jugend kecke Mien’ ihr seht;
1390 
Auch bringt der Maler hier und da die bleichen
1391 
Muthlosen an, die bebend vorwärts schleichen;
1392 
Verzagten Bauern gleichen sie vollkommen:
1393 
Man schwor, man hab’ ihr Zittern wahrgenommen.
 
1394 
An Ajax und Ulysses, wie geschickt
1395 
Zeigt seine Kunst sich da im Angesicht!
1396 
Jedwedes Herz in Jedes Zügen liegt,
1397 
Daß klar die Handlungsweis’ im Antlitz spricht:
1398 
Muth, Grausamkeit aus Ajax Augen bricht;
1399 
Ulysses’ Auge, schlau, nur Milde kennt,
1400 
Und zeigt, fein lächelnd, kluges Regiment.
 
1401 
Da redend auch der greise Nestor steht,
1402 
Als feur’ er grad’ die Griechen an zum Streit;
1403 
Die ruh’ge Handbewegung, scheint es, geht
1404 
Auf’s Blickefesseln aus und Achtsamkeit;
1405 
Der weiße Bart bewegt sich, voll und breit,
1406 
Beim Sprechen auf und ab, der Lipp’ entwinden
1407 
Sieht man den Hauch sich, und in Luft entschwinden.
 
1408 
Von gaffenden Gesichtern ein Gedränge,
1409 
Verschlingend scheint’s des Weisen Rath zu hören;
1410 
Verschieden an Gedanken horcht die Menge,
1411 
Als ob bezaubert ihre Ohren wären:
1412 
Vom Maler tief gestellt und hoch, bethören
1413 
Die Sinne Manche; wo der Leib versteckt,
1414 
Scheint’s, daß der Scheitel noch empor sich streckt.
 
1415 
Hier Eines Hand ruht auf des Andern Haupt,
1416 
Deß Nas’ umschattet seines Nachbars Ohr;
1417 
Gedrängt wich dieser hier, der Luft beraubt,
1418 
Roth aufgeblasen rückwärts, flucht’ und schwor,
1419 
Und solche Wuthausbrüche kamen vor,
1420 
Daß, schien es, galt’s nicht Nestor’s goldne Worte,
1421 
Das Schwert ein Loch in die Berathung bohrte.
 
1422 
Viel Werk der Phantasie enthält das Ganze,
1423 
Auf Täuschung wohlberechnet, schön vereint:
1424 
So, statt Achillens Bild, steht seine Lanze
1425 
Von stahlbewehrter Hand umfaßt; man meint
1426 
Ihn hinten, ihn, der nur dem Geist erscheint;
1427 
Oft steht Gesicht nur, Hand da, oder Fuß,
1428 
Statt der Gestalt, die man sich denken muß.
 
1429 
Auf Troja’s hartbedrängten Mauern weilen,
1430 
Weil fort der edle Hektor, ihr Vertrau’n,
1431 
Zum Kampf zieht, Mütter, die die Freude theilen,
1432 
Die Söhn’ im leichten Waffenschmuck zu schau’n:
1433 
Sie leih’n der Hoffnung so gar weiten Raum,
1434 
Daß durch die leichte Freud’ oft, schwarz beschwingt
1435 
Wie Flecken durch den Spiegel, Ahnung dringt.
 
1436 
Und vom dardan’schen Strande, wo sie ringen,
1437 
Strömt roth zum schilf’gen Simois das Blut,
1438 
Deß Wogen, wie die Schlacht nachahmend, dringen
1439 
Die steile Höh’ hinan; hier bricht mit Wuth
1440 
Am rauhen Felsenufer ihre Fluth,
1441 
Und weicht, um neuen Reih’n sich anzuschließen,
1442 
Die in den Simois den Schaum ergießen.
 
1443 
Zu diesem Bilde nun Lucretia kam,
1444 
Gesichter suchen, die nur Trauer zeigen:
1445 
Sie sah wohl deren eingefurcht von Gram,
1446 
Doch keins, dem Schmerz genug und Trübsal eigen,
1447 
Bis Hekuba sie sah verzweifelnd neigen
1448 
Das alte Haupt, das ihren Priamus
1449 
Zu Pyrrhus’ Füßen bluten sehen muß.
 
1450 
Hier zeigt der Maler ganz der Zeit Ruin,
1451 
Der Schönheit Untergang, des Grams Gewalt;
1452 
Wie Furchen durch’s Gesicht und Runzeln zieh’n,
1453 
Blieb keine Spur der früheren Gestalt;
1454 
Schwarz ist das Blut, das in den Adern wallt;
1455 
Es zeigt, da längst sein Nahrungsquell versiegt,
1456 
Ein Leben nur, das schon im Leichnam liegt.
 
1457 
Lucretia sucht (sie läßt das Schmerzbild nicht),
1458 
Auf sich das Weh’ der Alten anzuwenden,
1459 
Der zum Erwiedern nur der Schrei gebricht,
1460 
Und Worte, Fluch auf ihren Feind zu senden;
1461 
Der Maler war kein Gott, ihr die zu spenden;
1462 
Doch wird er von Lucretien drum verklagt,
1463 
Daß Gram er ihr verlieh’n, das Wort versagt.
 
1464 
„Du arme Laute, keinen Ton zu haben!“
1465 
Spricht sie, „ich bin’s, die Klagen für dich fand!
1466 
Mit Balsam will ich Priam’s Wunden laben,
1467 
Will Pyrrhus fluchen, der ihm Tod gesandt;
1468 
Mit Thränen lösch’ ich Troja’s langen Brand;
1469 
Den Griechen allen, die dir Feinde, dringe
1470 
In’s böse Auge meines Messers Klinge.
 
1471 
Die Dirne zeig’ mir, die den Hader schuldet,
1472 
Von meinen Nägeln werd’ ihr Reiz zerstört;
1473 
Um deine Wollust, eitler Paris, duldet
1474 
Nun Ilium den Brand, der es verzehrt;
1475 
Dein Aug’ erzeugte Gluth, die wild sich mehrt,
1476 
Um deiner Augen Schuld muß Troja seh’n
1477 
Sohn, Vater, Mutter, Tochter untergeh’n.
 
1478 
Warum muß eines Einzelnen Ergötzen
1479 
Das allgemeine Elend Vieler zeugen!
1480 
Laß Sünd’, allein verübt, auch mit Entsetzen
1481 
Allein nur auf des Sünders Haupt sich neigen;
1482 
Laß Strafe nicht schuldlose Seelen beugen;
1483 
Um Eines Missethat nicht Viele weinen:
1484 
Des Einen Schuld gestraft am Allgemeinen!
 
1485 
Wie Hekuba hier weint, dort Priam stirbt!
1486 
Nie Troilus’ und Hektor’s Heldenbrust
1487 
Hier sinkt! Dort Freund bei Freund im Blut verdirbt,
1488 
Der Freund den Freund verwundet unbewußt!
1489 
Und all’ die Leben tödtet Eines Lust!
1490 
Wacht’ Priam ob des Sohns Begierden treuer,
1491 
In Ruhm strahlt’ Troja dann, und nicht in Feuer.
 
1492 
Gefühlvoll weint sie hier um Troja’s Weh’n,
1493 
Denn Gram fährt fort, gleich schwerer Glocken Schlage,
1494 
Einmal in Schwung gesetzt, von selbst zu geh’n,
1495 
Und wen’ge Kraft weckt Grabgeläutes Klage:
1496 
So auch Lucretia; die trübe Sage
1497 
Erzählt sie hier den schöngemalten Sorgen,
1498 
Leiht ihnen Worte, muß die Blicke borgen.
 
1499 
Auf dem Gemälde fährt ihr Aug’ umher,
1500 
Und Mitleid wird von ihr dem Leid geschenkt;
1501 
Zuletzt sieht sie ein Bild in Banden schwer,
1502 
Das fleh’nde Blicke auf die Hirten lenkt. –
1503 
Zufriednen Blicks, obgleich von Gram bedrängt,
1504 
Gen Troja mit den plumpern Bauern schien
1505 
Es mit der Ruh’, die Leiden höhnt, zu zieh’n.
 
1506 
Was irgend Trug verhüllt, hat hier verwandt
1507 
Des Malers Kunst; sie lieh harmlosen Schein
1508 
Dem Gehenden, die Trauer war verbannt;
1509 
Es schien die Stirne sich des Grams zu freu’n,
1510 
Gemischt die Wang’, nicht roth, nicht weiß zu sein,
1511 
Daß sie nicht mög’ erröthend Schuld bezeugen,
1512 
Noch bleich die Furcht, die falschen Herzen eigen.
 
1513 
Doch ein vollendet eingefleischter Teufel,
1514 
Wahrt er vom strengsten Guten so die Züge,
1515 
Verschanzt er so sein Böses gegen Zweifel,
1516 
Daß selbst der Argwohn nie Bedenken trüge,
1517 
Es könne schleichender Betrug und Lüge
1518 
Solch hellem Tage Unheilsnacht gesellen,
1519 
Die heil’gengleichen Formen Sünd’ entstellen.
 
1520 
Das kluge Weib hat schnell im Bild erkannt
1521 
Den list’gen Sinon, der die Mähr’ erdacht,
1522 
Durch welche Priamus sein Unglück fand;
1523 
Deß Worte, wie ein Freuermeer, die Pracht,
1524 
Des stolzen Iliums zu Fall gebracht.
1525 
Der Himmel weinte, und die Sterne wichen
1526 
Von ihrem Platz, als Ilium erblichen.
 
1527 
Aufmerksam schauend prüft sie dies Gemäld’,
1528 
Und schilt des Malers Kunst, zeiht Mißbrauchs ihn
1529 
Der edlen Form, für Sinon ausgewählt,
1530 
Da ihr das Bild zu schön für’s Laster schien;
1531 
Und fort und fort blickt sie nach diesem hin,
1532 
Bis Wahrheit ihr im offnen Blick so klar
1533 
Erscheint, daß sie das Bild nicht hält für wahr.
 
1534 
„Es kann nicht sein“, spricht sie, „daß so viel Trug –
1535 
Sie wollte sagen: laur’ in solchem Blick;
1536 
Da fiel Tarquin’s Gestalt ihr ein, und schlug
1537 
Das laur’ in solchem auf der Zung’ zurück
1538 
Vom kann nicht sein; in diesem Sinn sie schwieg.
1539 
Und wandt es so: „es kann nicht sein, ich meine,
1540 
Daß solch Gesicht nicht niederm Sinn sich eine. –
 
1541 
Denn wie der list’ge Sinon dargestellt,
1542 
So sanft, so stiller Trauer zugewendet,
1543 
So abgespannt, von Gram und Müh’n entstellt,
1544 
Ganz so kam auch Tarquin zu mir; so blendet
1545 
Durch äußre Sittsamkeit auch er, so schändet
1546 
Auch inn’re Schlechtheit ihn: wie Priam diesen,
1547 
Pflegt’ ich Tarquin; – mein Troja mußt’ es büßen.
 
1548 
Schau’, wie aus Priam’s Auge Mitleid spricht!
1549 
Sieh’ ihn um Sinon’s Zähren hier sich grämen;
1550 
Du bist, o Priam, alt, doch weise nicht!
1551 
Ein Troer stirbt für jede dieser Thränen,
1552 
Die nicht als Wasser, nein als Feuer strömen.
1553 
Die klaren Perlen, die dein Mitleid finden,
1554 
Sind Feuerbälle, die die Stadt entzünden.
 
1555 
Die Teufel stehlen kalter Höll’ ihr Gut!
1556 
Der glüh’nde Sinon scheint vor Frost zu beben,
1557 
Doch in dem Frost heiß brennend wohnt die Gluth;
1558 
In Eintracht weiß der Widerspruch zu leben
1559 
Mit sich, um Thoren mehr Vertrau’n zu geben:
1560 
So giebt auch Sinon’s Thräne Priam Glauben,
1561 
Er läßt durch diesen Quell sich Troja rauben.“
 
1562 
Von wüthend wilder Leidenschaft befallen,
1563 
Zersprengt hier Ungeduld die Brust ihr fast’;
1564 
Den falschen Sinon möchte sie zerkrallen,
1565 
Vergleichend ihn mit jenem Unglücksgast,
1566 
Um dessen That sie jetzt sich selber haßt;
1567 
Doch lächelnd giebt sie’s endlich auf und spricht:
1568 
„O Thörin, diesen schmerzen Wunden nicht.“
 
1569 
So fluthen stets und ebben ihre Sorgen,
1570 
Und Zeit ermüdet Zeit bei ihren Klagen:
1571 
Sie wünscht die Nacht, und sehnt sich nach dem Morgen,
1572 
Und möchte Eins um’s Andre von sich jagen.
1573 
Lang’ scheint auch kurze Zeit, wo Schmerzen nagen.
1574 
Sei Kummer noch so träg’, er schläft doch nicht,
1575 
Der wachende sieht, wie die Zeit hinkriecht.
 
1576 
Sie hat dem Grübeln diese Zeit entnommen,
1577 
Die sie bei jenen Bildern hingebracht;
1578 
Von ihres Grams Gefühlen abgekommen,
1579 
Hat sie nur Andrer Leiden überdacht,
1580 
Sah fremdes Weh’, ließ ihres außer Acht;
1581 
Zu seh’n, wie Andre seinen Kummer theilen,
1582 
Erleichtert Manchen, kann’s ihn auch nicht heilen.
 
1583 
Doch endlich kommt der Bote, dienstbereit,
1584 
Mit ihm sein Herr und reich Geleit gezogen;
1585 
Lucretia finden sie im Trauerkleid,
1586 
Und um die thränenlosen Augen wogen
1587 
Ihr blaue Kreise, gleich wie Regenbogen;
1588 
Die zeigen in der trüben Atmosphäre,
1589 
Daß der vertobte Sturm auf’s Neu’ sich näh’re.
 
1590 
Betrübten Blicks naht ihr der Gatte sich
1591 
Und sieht bestürzt ihr trauriges Gesicht:
1592 
Roth ist ihr Aug’ und wund; sein Glanz erblich,
1593 
Des Todes Qual zerstört der Farben Licht.
1594 
Er hat die Kraft, sie zu befragen, – nicht;
1595 
Er steht, wie Freunde wohl in fernen Gassen
1596 
Entfernt vom Haus sich seh’n, und kaum es fassen.
 
1597 
Doch endlich faßt er ihre kalte Hand
1598 
Und spricht: „Welch wild Geschick traf dich, welch Leid,
1599 
Daß, süßes Lieb, ich dich so bebend fand?
1600 
O welcher Gram hat dir die Herrlichkeit
1601 
Der Farb’ entwandt? Warum dies Trauerkleid?
1602 
Enthüll’, o Theure, dieses finstre Brüten,
1603 
Nenn’ deinen Schmerz uns, daß wir Hülfe bieten.“
 
1604 
Dreimal seufzt sie nach Sprache für den Gram,
1605 
Bis einmal sich ein Leidenswort gewähre;
1606 
Zuletzt, da Kraft ihr, ihm zu gnügen, kam,
1607 
Versucht sie, wie sie ihn davon belehre,
1608 
Daß sich ein Feind bemächtigt ihrer Ehre;
1609 
Da Collatin und seine Reis’gefährten
1610 
Mit traur’ger Spannung ihres Worts begehrten.
 
1611 
Im feuchten Neste fängt der bleiche Schwan
1612 
Sein Trauerlied nun an vom nahen Enden,
1613 
Und spricht: „Der Schuld steh’n wen’ge Worte an,
1614 
Da nicht Entschuld’gung kann den Fehltritt wenden;
1615 
Ich hab’ mehr Leid als Worte jetzt zu spenden,
1616 
Und allzu lang ist meines Jammers Sage,
1617 
Als daß sie eine müde Zunge klage.
 
1618 
Drum sei dies Alles, was sie künden mag:
1619 
Geliebter Mann, ein Fremder kam und raubt’
1620 
Dir deines Bettes Heiligthum, und lag,
1621 
Wo du zu ruhen pflegst dein müdes Haupt,
1622 
Und was Ihr sonst an Unthat immer glaubt,
1623 
Die niedrer Zwang an mir je dürfe wagen,
1624 
Das mußt’, ach, deine arme Gattin tragen.
 
1625 
Bei düstrer Nacht unholdem Schweigen schlich,
1626 
Von Fackellicht geführt, in mein Gemach
1627 
Mit blankem Schwert ein kriechend Unthier sich,
1628 
Und flüstert’ leise: Römerin, erwach’!
1629 
Gieb meiner Liebe dich, sonst ew’ge Schmach
1630 
Häuf’ ich die Nacht auf dich und was dir theuer,
1631 
Wenn du dich sträubst, zu löschen dieses Feuer!
 
1632 
Erst deiner Knechte einen, also droht’
1633 
Er mir, wenn ich nicht wiche seinem Willen,
1634 
Töd’ ich zuerst, dann geb’ ich dir den Tod,
1635 
Und schwöre: Beide traf ich euch im Stillen
1636 
Der Wollust an und tödtet’ euch deswillen,
1637 
Die Buhler, bei der That; und Ruhm bringt mir
1638 
Dies Werk dann ein, und ew’ge Schande dir.
 
1639 
Da fuhr ich auf und fing laut an zu schrei’n,
1640 
Doch auf mein Herz sah ich sein Schwert ihn heben,
1641 
Hört’ schwören ihn: gäb’ ich mich nicht darein,
1642 
Sollt’ ich kein Wort zu sprechen mehr erleben,
1643 
Stoff zur Erzählung meiner Schande geben;
1644 
Und daß man ewig dann in Rom gedächte,
1645 
Wie ich gestorben sei mit einem Knechte.
 
1646 
Mein Feind war stark, und ich, ich arme Schwache,
1647 
Ward schwächer noch durch Furcht, die mich beschwert’;
1648 
Der Zunge wehrt’ mein blut’ger Richter Sprache;
1649 
Vertheid’gung ward dem Recht da nicht gewährt;
1650 
Doch seine Wollust kommt als Zeug’ und schwört:
1651 
Mein Reiz die Augen ihm gestohlen habe,
1652 
Und wer dem Richter stiehlt, verfällt dem Grabe.
 
1653 
O weise du Entschuldigung mir nach!
1654 
Laß mind’stens dies zur Zuflucht mir gedeih’n,
1655 
Daß, da mein Blut befleckt von dieser Schmach,
1656 
Doch tadellos sei mein Gemüth und rein;
1657 
Dies zwang er nicht, es blieb in Liebe dein,
1658 
Und hielt sich, fern von Mitschuld, klar und helle
1659 
In seiner pestbehauchten, schwarzen Zelle.“
 
1660 
Und er, der hoffnungslos dies Leid muß tragen,
1661 
Beginnet nun, das Haupt zur Brust gesenkt,
1662 
Mit starrem Aug’, die Arme eingeschlagen,
1663 
Den Lippen zu entsenden, was ihn kränkt;
1664 
Doch wird das Wort vom Schmerz zurückgedrängt.
1665 
Der Arme! Fruchtlos muß das Streben sein,
1666 
Was er ausathmet, trinkt sein Athem ein.
 
1667 
Wie durch den Brückenbogen wilde Fluth
1668 
Dem Aug’ enteilt, das sich auf sie gewandt,
1669 
Zurück im Strudel dann, gebrochner Wuth,
1670 
Zum Sunde eilt, der tobend sie entsandt
1671 
Und nunmehr heim sie holt, da’s Zürnen schwand:
1672 
So seufzet er; zur Säge wird sein Leid,
1673 
Stößt vor und drängt zurück die Traurigkeit.
 
1674 
Sie folgt dem Leid, das sprachlos ihn bewegt,
1675 
Und weckt ihm so des Geists erlosch’ne Kraft:
1676 
„Geliebter Herr, dein Gram, von Neuem regt
1677 
Er meinen auf, wie Regen Fluth erschafft;
1678 
Nur schmerzlicher macht deine Leidenschaft
1679 
Mein tiefes Weh’; o sei dir’s zur Genüge,
1680 
Daß einem Gram ein Augenpaar, erliege.
 
1681 
O, schon für mich, wenn sie noch werth dir scheint,
1682 
Die dein einst hieß, um meinetwillen höre:
1683 
Nimm augenblicklich Rach’ an meinem Feind,
1684 
Mein, dein, sein eigner Feind; und glaub’, Abwehre
1685 
Von dem sei’s, was gescheh’n, denn Hülfe wäre
1686 
Nun doch zu spät! Es sterbe der Verräther;
1687 
Denn schont das Recht, vermehrt’s die Missethäter.
 
1688 
Doch eh’ ich, edle Herrn, ihn nenn’ (so wandte
1689 
Sie sprechend sich an Collatin’s Geleit),
1690 
Gebt mir eu’r ehrenhaftes Wort zum Pfande,
1691 
Verfolgend schnell zu ahnden dies mein Leid;
1692 
Denn schön ist, ehrenvoll ein solcher Streit,
1693 
Wenn, treu dem Eid, der Ritter Rächerarm
1694 
Das Unrecht tilgt und richtet Frauenharm.
 
1695 
Die gegenwärt’gen Herrn, auf dies Begehr,
1696 
Mit Edelmuth, laut Beistand ihr verhießen,
1697 
Wie’s Ritterthum gebeut und ihre Ehr’,
1698 
Den Feind nur möchten sie bezeichnet wissen;
1699 
Doch sie kann zum Bericht sich nicht entschließen.
1700 
„O was“, so fällt sie in die Schwüre ein,
1701 
„Was wäscht mich von erzwungnen Flecken rein?
 
1702 
Von welcher Art ist mein Verbrechen! Hat
1703 
Verein des Schrecklichsten es nicht erzwungen?
1704 
Kann je mein reiner Sinn die schmutz’ge That
1705 
Verzeih’n, die Ehre heben, die gesunken?
1706 
Bleibt meinem Mißgeschick ein Hoffnungsfunken? –
1707 
Befreit doch selbst vom Schmutze sich der Bach,
1708 
Warum nicht ich von aufgedrungner Schmach?“
 
1709 
Einstimmig hier aus Aller Munde bricht:
1710 
„Des Leibes Flecken rein’ge ihr Gemüth“;
1711 
Doch freudlos lächelnd dreht sie das Gesicht,
1712 
Darin man tief von Thränen eingeglüht,
1713 
Des harten Mißgeschickes Spuren sieht.
1714 
„Nein“, ruft sie, „nicht soll Frau’n, die nach mir leben,
1715 
Was mich entschuldigt, Recht auf Nachsicht geben!“
 
1716 
Und seufzend jetzt, als wollt’ das Herz ihr brechen,
1717 
Stößt sie Tarquinens Namen aus; er, er,
1718 
Und nichts als er kann ihre Zunge sprechen;
1719 
Bis sie nach langem Müh’n, aufathmend schwer,
1720 
In unklar krankem Ton, zuletzt nichts mehr,
1721 
Als dies noch spricht: „Er ist’s, ihr Edlen, er,
1722 
Der diese Hand zum Stoße führt – hieher.“
 
1723 
Und so durchbohrt sie mit der scharfen Schneide
1724 
Die treue Brust, empor die Seele fährt;
1725 
Geheilt hat sie der Stoß von tiefem Leide,
1726 
Das im entehrten Kerker sich genährt.
1727 
Der Geist, befreit von müden Seufzern, kehrt
1728 
Zum Himmel heim, und durch die Wund’ entschwebt
1729 
Dem Erdenschicksal das, was ewig lebt.
 
1730 
Bestürzt stand bei dem Todeswerke da,
1731 
Versteinert, sammt den Edlen, Collatin;
1732 
Doch als ihr Blut Lucretiens Vater sah,
1733 
Sank auf den selbstgefällten Leib er hin;
1734 
Den Stahl will Brutus aus der Wunde zieh’n,
1735 
Und diesem stürzen, als er ausgezogen,
1736 
Wie Rache suchend, nach des Blutes Wogen.
 
1737 
Und sanft von ihrem Busen rieselnd, scheiden
1738 
Zwei Ströme sich, daß purpurhelles Blut
1739 
Um ihren Körper kreis’t, zu beiden Seiten,
1740 
Worin er, ein zerstörtes Eiland, ruht; –
1741 
Entvölkert, nackt, in dieser Schreckensfluth.
1742 
Ein Theil des Blutes rein und roth noch sprudelt;
1743 
Doch schwarz scheint andres, von Tarquin besudelt.
 
1744 
Rings um das trauernd starre Antlitz scheint
1745 
Dies schwarze Blut zum Wasserreif zu steigen,
1746 
Der jenen schmachbedeckten Platz beweint. –
1747 
Seitdem, um diesem Leid Mitleid zu zeigen,
1748 
Ist schlechtem Blut solch Wasserzeichen eigen.
1749 
Roth immer nur das unbefleckte bleibt,
1750 
Es schämt sich deß, das so zur Fäulniß treibt.
 
1751 
„O Tochter, Tochter!“ schrie Lucrez gebeugt,
1752 
„Mein war dies Leben, nie durftst du’s entwenden;
1753 
Wenn in dem Kind des Vaters Bild sich zeigt,
1754 
Wohin mich, da Lucretia todt, nun wenden?
1755 
Nicht zeugt’ ich dich, daß so du solltest enden!
1756 
Stirbt vor den Eltern hin das Kind, dann sind
1757 
Nachkommen diese, und nicht mehr das Kind.
 
1758 
Du arm zerbrochnes Glas, wie oftmals galt
1759 
Ich mir in deinem Bild für neu geboren!
1760 
Nun, schöner Spiegel, zeigst du, trüb’ und kalt,
1761 
Mir ein Geripp’, das Zeit und Tod durchbohren;
1762 
Durch dich hat deine Wang’ mein Bild verloren,
1763 
Das Glas zerschlugst du mir, das, ach! so schön;
1764 
Und nimmer, was ich war werd’ ich mehr seh’n.
 
1765 
Nicht länger währ’, o Zeit! Hör’ auf zu fliegen,
1766 
Wenn die, die leben sollten, so erlagen!
1767 
Soll Kräft’ge nur der Tod boshaft besiegen?
1768 
Und schlotternd Schwache nur das Leben plagen?
1769 
Sirb, alte Biene! Laß die jungen tragen
1770 
Zum Korb den Honig! Lebe du, und mich
1771 
Den Vater, siehe sterben, nicht er dich!“
 
1772 
Erst jetzt fährt, wie vom Traum, auf Collatin,
1773 
Und bittet ihn, daß seinem Schmerz er weiche,
1774 
Sinkt in Lucretiens strömend Blut dann hin,
1775 
Und badet sein Gesicht, das schreckensbleiche;
1776 
Den Andern scheint’s, er werd’ mit ihr zur Leiche,
1777 
Bis ihm, nicht feig zu sterben, Scham gebot,
1778 
Nein lebend kühn zu rächen ihren Tod.
 
1779 
Die tiefe Qual, die seinen Geist beschwerte,
1780 
Hat Schweigen seiner Zunge aufgedrängt;
1781 
Zwar wüthend, daß ihr Gram den Lauf verwehrte
1782 
So lang’, und ein erleichternd Wort beschränkt,
1783 
Beginnt sie nun; doch durch die Lippen zwängt
1784 
Sich solches Wortgewühl, sein Herz zu heben,
1785 
Daß Niemand, was er sprach, weiß anzugeben.
 
1786 
Vernehmlich nur sprach er Tarquinens Namen,
1787 
Doch durch die Zähn’, als ob sie ihn zerrissen:
1788 
Und dieser Sturm, bis Regenschauer kamen,
1789 
Hielt Kummers Fluth zurück zu starkern Güssen;
1790 
Doch endlich schweigt der Wind, und Ströme fließen,
1791 
Und Sohn und Vater weinen um die Wette,
1792 
Wer mehr für Weib, für Tochter Thränen hätte.
 
1793 
Der Eine, wie der Andre nennt sie sein;
1794 
Doch Keiner will des Andern Anspruch tragen.
1795 
„Mein ist sie!“ sagt der Vater, „mein, o mein!“
1796 
Der Gatte ruft, „das Vorrecht soll, zu klagen,
1797 
Mir Keiner nehmen, Keiner trauernd sagen:
1798 
Er wein’ um sie, die Niemands ist als meine;
1799 
Drum Collatin, sonst Keiner sie beweine.“
 
1800 
Ach!“ stöhnt Lucrez, „ich gab dies Leben ihr,
1801 
Das sie zu früh und doch zu spät zertreten.“
1802 
„Weh’, weh’!“ seufzt Collatin, „Weib war sie mir,
1803 
Mein Eigenthum; konnt’ sie, was mein war, tödten!“
1804 
„Mein Kind!“ – „Mein Weib!“ die Jammertöne wehten,
1805 
Hin mit Lucretiens Leben durch die Luft,
1806 
Die dumpf zurück: „mein Kind! mein Weib!“ nur ruft.
 
1807 
Doch Brutus, er, der aus Lucretiens Seite,
1808 
Den Stahl zog, sieht den Kummer, und er schmückt
1809 
Nun seinen Geist mit neuem stolzen Kleide;
1810 
Der Thorheit Schein wird hier im Blut erstickt;
1811 
Bis jetzt hat Rom in Brutus nur erblickt
1812 
Der Kön’ge geckenhaften eitlen Thoren,
1813 
Nur gut, durch Scherz zu kitzeln Fürstenohren.
 
1814 
Ablegt er dies entstellende Gewand,
1815 
Worin er klug sich eingehüllt bis jetzt,
1816 
Und scheucht, mit lang verborgenem Verstand,
1817 
Den Gram, der Collatinens Augen netzt:
1818 
„Auf!“ spricht er, „edler Römer, schwer verletzt,
1819 
Laß mich, der unerforscht, euch Thor geheißen,
1820 
Nun die verständ’ge Klugheit unterweisen.
 
1821 
Wie, Collatin! Hast Leid du Leid geseh’n,
1822 
Und Wunden Wunden heilen? Schmerz Verbrechen?
1823 
Heißt selbst dich schlagen Bubenthat an dem,
1824 
Durch den dein schönes Weib hier blutet, rächen?
1825 
Der Kinderzorn mag schwachem Geist entsprechen;
1826 
So kam’s, daß auch dein Weib im Opfer fehlte,
1827 
Die statt des Feinds sich selbst zu tödten wählte.
 
1828 
O Römer, laß dir nicht das Herz bedecken,
1829 
Vom thränenreichen Thau nutzloser Klagen!
1830 
Knie’ hin mit mir, und laß uns dann erwecken
1831 
Die Götter Roms, die anzufleh’n wir wagen,
1832 
Daß aus den schönen Straßen Roms zu jagen,
1833 
Schandthaten, die in ihnen Rom entehren,
1834 
Sie unserm starken Arme nicht verwehren!
 
1835 
Jetzt bei dem hohen Capitole schwöret,
1836 
Bei diesem keuschen Blute, frech entweiht,
1837 
Beim Sonnenlicht, das Erdenreichthum nähret,
1838 
Beim wohlbeschützten Recht, deß Rom sich freut,
1839 
Und bei Lucretiens Seele, die ihr Leid
1840 
Uns kaum geklagt, bei dieses Stahles Roth,
1841 
Zu rächen dieses treuen Weibes Tod!“
 
1842 
Er spricht’s, und auf die Brust die Hand ausstreckend,
1843 
Küßt er die Unglückskling’, als Eides Zeugen,
1844 
Die Uebrigen zu gleichem Eid erweckend,
1845 
Die sich, erstaunend, seinen Worten neigen,
1846 
Dann knieend sich vereint zur Erde beugen;
1847 
Und Brutus wiederholte, wie zuvor,
1848 
Das heilige Gelübd’, und Jeder schwor.
 
1849 
Nachdem sie dieses Strafgericht beschworen,
1850 
Beschlossen sie, Lucretia fortzutragen,
1851 
Und bei dem Leichnam vor der Römer Ohren
1852 
Tarquin’s verworfne Missethat zu klagen;
1853 
Dies ward sofort vollbracht, wie vorgeschlagen,
1854 
Und willig von den Römern insgesammt
1855 
Tarquin für ew’ge Zeit aus Rom verbannt.

Details zum Gedicht „Tarquin und Lucretia“

Anzahl Strophen
265
Anzahl Verse
1855
Anzahl Wörter
13502
Entstehungsjahr
nach 1580
Epoche
Humanismus, Renaissance & Reformation

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Tarquin und Lucretia“ des Autors William Shakespeare. Shakespeare wurde im Jahr 1564 in Stratford-upon-Avon geboren. Im Zeitraum zwischen 1580 und 1616 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Humanismus, Renaissance & Reformation zuordnen. Shakespeare ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 13502 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 1855 Versen mit insgesamt 265 Strophen. William Shakespeare ist auch der Autor für Gedichte wie „Sonett CI.“, „Sonett CII.“ und „Sonett CIII.“. Zum Autor des Gedichtes „Tarquin und Lucretia“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 160 Gedichte vor.

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