Selbstbesinnung von Kurt Tucholsky

Fort mit der sonst so aktuellen Harfe!
Heut pfeif ich mir nach eigenem Bedarfe
auf meiner Flöte einen in Cis-Moll
von dem, was ist; von dem, was werden soll.
 
Von dem, was ist … Kaum kann uns etwas schrecken.
Mars schlägt mit Wucht auf sein verzinktes Becken –
laß bluten, was da bluten mag –
und er regiert die Stunde und den Tag.
 
Und er regiert die Stunde und das Jahr –
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bedenk, wer damals noch am Leben war!
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Und leise spielt – wie waren wir doch jung! –
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der Leierkasten der Erinnerung.
 
13 
Wie kannst du dich in all dem wiederfinden?
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Du magst dich mühsam durch Systeme winden,
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durch Pflichten, die es geben muß und gibt –
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Du siehst dahinter und wirst unbeliebt.
 
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Laß dich von keinem Schlagwort kirren!
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Von keinem Vollbart dich beirren!
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Es schenkt dir niemand was dazu –
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bleib, was du warst; bleib immer: Du!
 
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Geheimrat Goethe sang nicht minder
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vom höchsten Glück der Erdenkinder –
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er war Ministerpräsident
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und also sicher kompetent.
 
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Man kehrt nach aller Schicksalstücke
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doch immer auf sich selbst zurücke.
27 
Drum wünsch ich dir nach dem Gebraus
28 
dein altes, starkes, eignes Haus!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Selbstbesinnung“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
180
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Selbstbesinnung“ ist von dem deutschen Journalisten, Schriftsteller und Satiriker Kurt Tucholsky, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky ist vor allem für seine politischen und gesellschaftskritischen Texte während der Weimarer Republik bekannt.

Bei einem ersten flüchtigen Einblick fällt auf, dass das Gedicht in sieben Strophen unterteilt ist, wobei jede Strophe aus vier Versen besteht. Der Inhalt des Gedichts scheint, wie der Titel bereits andeutet, um das Konzept der Selbstfindung und des Selbstbewusstseins zu kreisen.

Im Gedicht spricht das lyrische Ich eine Reihe von Themen an, die den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kontext, die Erinnerung und die persönliche Identität betreffen. Es vermittelt einen Eindruck von Rebellion und Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation („Fort mit der sonst so aktuellen Harfe!“). Im Verlauf des Gedichts wird das Thema der Selbstfindung immer offensichtlicher, indem das lyrische Ich davon spricht, durch Systeme und Pflichten zu navigieren und dabei das wahre Selbst zu entdecken und zu bewahren.

Der Autor verwendet einfache und verständliche Worte und die Form der Lyrik ermöglicht ihm, verschiedene Gedanken und Emotionen auszudrücken. Die Wiederholung einzelner Vers-Aussagen unterstreicht dabei die Bedeutung dieser Aussagen und hilft, die Gesamtbotschaft des Gedichts hervorzuheben.

Insgesamt scheint das Gedicht eine Mahnung an das Selbst zu sein, authentisch und wahr zu bleiben und sich nicht von äußeren Einflüssen ablenken oder manipulieren zu lassen. Es spiegelt auch die politische und gesellschaftliche Unzufriedenheit von Tucholsky wider und zeigt seine Fähigkeit, komplexe und schwere Themen in prägnanter poetischer Form zu vermitteln.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Selbstbesinnung“ des Autors Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. 1919 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Charlottenburg. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg von 1914-1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Das bedeutendste Merkmal der Literatur in der Weimarer Republik ist die Neue Sachlichkeit, die so heißt, da sie schlicht, klar, sachlich und hoch politisch ist. Die Literatur dieser Zeit war nüchtern und realistisch. Ebenso stellt sie die moderne Gesellschaft kühl distanziert, beobachtend, dokumentarisch und exakt dar. Die Autoren der Literaturepoche wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine einfache und nüchterne Alltagssprache verwendet. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil gehen, also ihre Heimat verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die Exilliteratur bildet eine eigene Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind typisch für diese Literaturepoche. Spezielle formale Merkmale weist die Exilliteratur nicht auf. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Bertolt Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 180 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 28 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Die Gedichte „All people on board!“, „Also wat nu – ja oder ja?“ und „An Lukianos“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Zum Autor des Gedichtes „Selbstbesinnung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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