Ideal und Wirklichkeit von Kurt Tucholsky

In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern … Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Du präparierst dir im Gedankengange
das, was du willst – und nachher kriegst dus nie …
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
 
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Sie muß sich wie in einem Kugellager
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in ihren Hüften biegen … groß und blond.
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Ein Pfund zu wenig – und sie wäre mager …
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wer je in diesen Haaren sich gesonnt …
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Nachher erliegst du dem verfluchten Hange,
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der Eile und der Phantasie …
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Man möchte immer eine große Lange,
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und dann bekommt man eine kleine Dicke –
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Ssälawih –!
 
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Man möchte eine helle Pfeife kaufen
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und kauft die dunkle – andere sind nicht da.
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Man möchte jeden Morgen dauerlaufen
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und tut es nicht … Beinah … beinah …
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Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
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an eine Republik – und nun ists die –!
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Man möchte immer eine große Lange,
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und dann bekommt man eine kleine Dicke –
27 
Ssälawih –!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.8 KB)

Details zum Gedicht „Ideal und Wirklichkeit“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
27
Anzahl Wörter
165
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ideal und Wirklichkeit“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller der Weimarer Republik, geboren am 9. Januar 1890 und gestorben am 21. Dezember 1935. Tucholsky ist bekannt für seine kritische Sicht auf gesellschaftliche und politische Missstände seiner Zeit. Eine zeitliche Einordnung des Gedichts ist in die Weimarer Republik, spezifisch Anfang der 1920er Jahre.

Beim ersten Durchlesen des Gedichts fällt sofort die wiederkehrende Satzstruktur auf. Das lyrische Ich präsentiert eine Sehnsucht – äußerlich dargestellt durch verschiedene Ideale – und dann die enttäuschte Realität. Das Gedicht endet jeweils mit dem scheinbar bedeutungslosen Ausdruck „Ssälawih -!“.

Inhaltlich dreht sich das Gedicht um den Konflikt von Ideal und Wirklichkeit. Es erweckt den Eindruck, dass der Mensch sich ständig nach etwas sehnt, was er nicht erreichen oder haben kann. Der Wunsch liegt der Realität voraus, doch die Enttäuschung folgt fast unvermeidlich. Es weist Parallelen zu aspirationalen sozialen Phänomenen auf, wie sie in der Weimarer Republik existierten.

Formal ist das Gedicht in drei Strophen zu neun Zeilen unterteilt, wobei jede Strophe fast identisch wiederholt wird, mit Ausnahme des spezifischen Ideals und seiner Realität. Ssälawih, das wiederkehrende Wort am Ende jeder Strophe, ist tatsächlich das Wort „hiwälass“ rückwärts gelesen - ein Wortspiel, das „lass es sein“ bedeutet.

Sprachlich nutzt Tucholsky einfache und klare Sprache, um diesen Konflikt von Ideal und Realität zu skizzieren. Er benutzt sarkastische und humoristische Töne, um die Enttäuschung jedes Wunsches zu verdeutlichen, besonders in dem Satz: „Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke“. Der Einsatz von Alltagssprache und Humor fungiert als Kritik und soziale Kommentierung.

Zusammenfassend benutzt Tucholsky eine einfache Form und Sprache, um die Diskrepanz zwischen menschlichen Idealvorstellungen und ihrer Realität zu zeigen. Das Gedicht kann als Kritik an sozialen Aspirationsverhalten oder als Kommentar zur menschlichen Natur interpretiert werden.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Ideal und Wirklichkeit“ ist Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1929 entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik hatten großen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von Nüchternheit und distanzierter Betrachtung der Welt gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine Alltagssprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das im Jahr 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Schriftsteller ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland ins Ausland. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Anders als andere Epochen der Literatur, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das Gedicht besteht aus 27 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 165 Worte. Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „’s ist Krieg!“, „Abschied von der Junggesellenzeit“ und „Achtundvierzig“. Zum Autor des Gedichtes „Ideal und Wirklichkeit“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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