Gebet des Zeitungslesers von Kurt Tucholsky

Du lieber Gott, so hör mein leises Flehen!
Tu auf den Packen hier heruntersehen!
Du lieber Gott, ich pfeif am letzten Loche:
das sind die Zeitungen von einer Woche!
Die muß ich alle, alle lesen:
 
Vom Bürgerkrieg bei Nord- und Südchinesen;
vom Turnerfest mit Grätsche und mit Kippe;
vom Flaggenstreit in Schaumburg-Lippe;
von Abegg, Lübeck, Ahlbeck, Becker;
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von Schnillers Testamentsvollstrecker;
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vom Prinz von Wales und von Richard Strauß –
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das fliegt mir alles so ins Haus!
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Ich kaufs auch noch. Sobald ichs seh,
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fixe Idee:
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„Acht-Uhr-Abendblatt! Acht-Uhr! B. Z.! Die Nachtausgabe!“
 
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Wo nur eine Zeitung ist, da trabe
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ich hin – aus Gier
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nach Papier – immer nach Papier –
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bleib auf der Straße stehn und lese hier:
 
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Die westliche Ostsee ziemlich bewegt;
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Pola Negri endgültig trocken gelegt;
 
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Churchill gestürzt – die Kammer tobt;
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der Papst mit Mary Wigman verlobt;
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(das ist ihm recht!) – Sturm auf den Azoren;
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Ludendorffs Dackel hat seinen Schwanz verloren;
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in Grönland Badehosenhausse;
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Pallenberg hundertmal in einer Posse;
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Verfilmung des Dramas Ain und Kabels;
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Prämiierung des kleinsten Damennabels;
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Mussolini und das schwarze Hemd seiner Amme –
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Nachrichten, Nachrichten, Telegramme, Telegramme, Telegramme –
 
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Jazz
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Was geht denn mich das an?
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Das geht mich gar nichts an!
35 
Das geht mich gar nichts an!
 
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In den Beilagen raschelt und zischelt der Wind –
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Ich bin ein armes zerlesenes Kind …
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Hat keiner mit mir Armen
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Erbarmen?
 
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Man sagt von JHM, daß Er doch auch ’nen Sohn hat …
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Das sind die Zeitungen von einem Monat!
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Wenn ich sie seh: mich schaudert und mich graust –
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was kommt da noch auf mich herabgebraust?
 
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Choral
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Befrei mich Du vom irdischen Bösen.
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Warum muß ich denn Silbenrätsel lösen?
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Was kostets mich für lange Stunden
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bis ich: „Maitresse unter Ludwig XVI.“ gefunden –
 
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Auflösung: „Nichtswürdig ist die Nation“
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Oder: „Du sollst nicht töten, spricht der Gottessohn!“
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Es ist manchmal ein Kreuz mit Deinem Wort!
52 
nimm doch die Kreuzworträtsel fort …
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So plätschert das tagaus, tagein,
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auf mich, den armen Leser herein –
 
55 
Es regnet Zeitungen
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Papier! Papier! Von welchem Riesenbaume
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verflattert das in unserm Erdenraume?
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Papier! Papier! Genug! Genug des Segens!
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Ertränk mich nicht, du Flut des Zeitungsregens!
 
60 
Marseillaise
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Hier sind die Fahnen aller Staaten!
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Allons, journaux de la patrie!
63 
Ich kann in Zeitungen schwimmen – in Zeitungen waten –
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aber ohne Zeitungen sein: das kann ich nie!
65 
Wie sie mich quälen,
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töten beinah –
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Und wie sie mir fehlen,
68 
wenn sie nicht da …!
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Was soll mir das? Was hats für einen Sinn?
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Mein ganzes Leben ging in Kleinigkeiten hin …
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Am jüngsten Tage des Gerichts,
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da werd ich sehn:
 
73 
4 Paukenschläge
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Ich kam zu nichts.
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Zerteilt. Zerspielt. Zerspellt. Zerzettelt.
76 
Mein Lebtag hab ich nur um eins gebettelt:
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um Ruhe.
 
78 
Du gabst sie nicht. So muß ich dienen,
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als Sklave aller Rotationsmaschinen.
 
80 
Du lieber Gott, gebleicht ist all mein Haar.
81 
Hier sind die Zeitungen von einem Jahr …!
82 
Du hast mich ihnen gänzlich preisgegeben –
83 
war das ein Leben – das mein Leben –?
 
84 
Ich merkte, welche Tageszeit grad war,
85 
nur am Matin, Paris-Midi, Le Soir…
86 
Bis in die letzten Winkel meines Heims
87 
kam deine Zeit, Le Temps, die Times –
 
88 
Verflucht die Bilder, die Plakate!
89 
die Leitartikel, Inserate!
90 
die Neuigkeit, die, kaum geboren, alt!
91 
das Blatt am Baum – der ganze Blätterwald!
92 
Verflucht! Verflucht die Menschenfibel!
93 
verflucht die Inseratenbibel!
94 
Ruhm: Durch die Zeitung. Heirat: durch die Zeitung.
95 
Krieg: Durch die Zeitung. Friede: durch die Zeitung.
96 
Nimm sie von mir! Die Zeitung triumphiert!
 
97 
„Totenstille. ln der Musik aufgelöste Akkorde.
98 
Ruhe nach einem Sturm‚ ganz sanft“
99 
Es hilft ja nichts.
100 
Du bist ja sicher
101 
selber
102 
abonniert …
 
103 
mit ausgestreckten Armen nach oben –
104 
Vorhang
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.2 KB)

Details zum Gedicht „Gebet des Zeitungslesers“

Anzahl Strophen
19
Anzahl Verse
104
Anzahl Wörter
573
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht ist von Kurt Tucholsky, einem deutschen Journalisten und Schriftsteller, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte und arbeitete. Das Gedicht mit dem Titel „Gebet des Zeitungslesers“ wurde demzufolge in der Weimarer Republik, also zwischen 1919 und 1933, verfasst.

Beim ersten Eindruck wird sichtbar, dass es sich um eine Art Monolog oder Inneren Dialog handelt, in dem das lyrische Ich seine Gedanken und Gefühle teilt. Der Eindruck von Überforderung und Angriff auf das Individuum ist stark, auch ein ironischer Unterton ist zu vernehmen.

Der Inhalt lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das lyrische Ich ist ein eifriger Zeitungsleser und wird mit einer Fülle von teils belanglosen, teils absurden und von weit hergeholten Informationen überhäuft, die es alle verarbeiten muss. Es fühlt sich überfordert und bedrängt von der Informationsflut und bittet schließlich um Befreiung von der ewigen Flut der Nachrichten, Kreuzworträtsel und Bilder.

In der Form sind keine durchgängigen Muster zu erkennen; Strophen- und Zeilenlänge variieren stark. Der Sprachstil ist informell und direkt, oft mit regionalen oder aktuellen Bezügen, humoristisch überspitzt und ironisch. Die wiederholte Anrede „Du lieber Gott“ und die vielen konkreten Beispiele lassen das Gedicht sehr persönlich und lebensnah wirken.

Dieses Gedicht kann als Kritik an der Medienkultur seiner Zeit gelesen werden. Tucholsky hinterfragt den sinnvollen Umgang mit Information und Nachrichten und zeigt die überwältigende und oft sinnlose Informationsflut auf, die auf das Individuum einprasselt. Der stete Ruf nach „Ruhe“ verdeutlicht das Bedürfnis nach einem Entkommen aus dem Wirbel der News. Am Ende bleibt ein Gefühl der Resignation und des Unausweichlichen - auch Gott selbst ist wahrscheinlich „abonniert“.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Gebet des Zeitungslesers“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1929 zurück. Der Erscheinungsort ist Berlin. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die wichtigsten geschichtlichen Einflüsse auf die Literatur der Weimarer Republik waren der Erste Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 andauerte, und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die zum Beispiel in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz setze den Schriftstellern dieser Zeit noch mal verstärkt Grenzen. 1931 trat die Pressenotverordnung in Kraft, dadurch waren die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate hinweg möglich geworden.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 573 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 104 Versen mit insgesamt 19 Strophen. Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „An einen garnisondienstfähigen Dichter“, „An ihren Papa“ und „Apage, Josephine, apage–!“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Gebet des Zeitungslesers“ weitere 136 Gedichte vor.

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