Die blonde Dame singt von Kurt Tucholsky

Ich habe mir mein Deutschland angesehen
in seiner großen, in der kleinen Zeit.
Ich sah den Kaiser in die Oper gehen;
der Hermelin war diesem Mann zu weit.
Und dann die Schranzen! und die Generäle!
Grau an Humor, am Rock indianerbunt …
Und leicht enttäuscht fragt meine liebe Seele:
„Na und …?“
 
Das wühlt und wimmelt in den großen Städten.
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Der Proletarier schuftet wie ein Tier.
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Der deutsche Bürger läßt sich ruhig treten,
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er macht Geschäfte und schluckt biedres Bier.
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Und Kunst und immer diese selben Jungen,
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nur Not und Kummer hält die Brut gesund.
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Erfolg? Dann haben sie bald ausgesungen.
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Ich frage mich, wenn all der Lärm verklungen:
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„Na und …?“
 
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Dann gab es Krieg und hohe Butterpreise.
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Es deliriert das Land. Revolution!
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Dem ganzen deutschen Bürgerstand geht leise
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der Stuhl mit Grundeis, nun, man kennt das schon.
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Es rufen hier und da Idealisten,
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man gründet Räte, Gruppen, einen Bund …
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Ich sehe Bolschewiki, Spartakisten –
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„Na und …?“
 
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Und steh ich einstmals vor dem Weltenrichter,
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(der liebe Gott ist schließlich auch ein Mann),
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streckt er sein Flammenschwert steil hoch und spricht er:
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„Dich böses Mädchen seh ich nicht mehr an!
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Hinweg! du sollst ins Fegefeuer pultern!
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Werft sie mir in den tiefsten Höllenschlund!“
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Dann sag ich leis und hebe müd die Schultern:
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„Na und …?“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Die blonde Dame singt“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
33
Anzahl Wörter
210
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die blonde Dame singt“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem bedeutenden Schriftsteller und Journalisten der Weimarer Republik, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholskys Werk ist durch sein großes Engagement für die Demokratie und durch seine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft gekennzeichnet.

Dieses Gedicht hat bei der ersten Lektüre eine Fragen aufwerfende und zugleich ernüchternde Wirkung. Das lyrische Ich scheint viel gesehen und erlebt zu haben, bleibt aber trotz der Vielfalt der Beobachtungen unbeeindruckt und unbeteiligt.

Inhaltlich schildert das Gedicht verschiedene Facetten der deutschen Gesellschaft, angefangen von der Kaiserzeit, über den Krieg und die Revolution, bis hin zu den sozialen Klassen und den Künstlern. Dabei wirft das lyrische Ich immer wieder die Frage auf: „Na und …?“ Diese Frage suggeriert eine gewisse Resignation und Distanzierung des lyrischen Ichs von den geschilderten Ereignissen und Zuständen. Es wirft zudem einen skeptischen Blick auf die Geschehnisse und hinterfragt deren Relevanz und Auswirkungen.

Formal ist das Gedicht in vier Strophen gegliedert, wobei die Anzahl der Verse in den Strophen variiert. Das Gedicht ist in einem freien Versmaß verfasst, ohne Reim oder rhythmisches Muster, was zu einem sehr direkten und berichtenden Ton beiträgt.

Die Sprache des Gedichts ist klar und ungeschmückt, mit einer eher umgangssprachlichen Syntax und Diktion, die der alltäglichen Erfahrung von Ereignissen entspricht. Der wiederkehrende Ausdruck „Na und …?“ hat einen stark ironischen Beigeschmack und hinterfragt sowohl die Ereignisse als auch die Haltung der Gesellschaft dazu. Der ironische Unterton verleiht dem Gedicht eine subtile, aber kritische Beobachtungsposition.

Zusammengefasst ist Tucholskys Gedicht „Die blonde Dame singt“ ein kritisches und deutliches Porträt der deutschen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das durch seine einfache Sprache und seine ironische Distanzierung einen eindrucksvollen Kommentar zu den gesellschaftlichen Zuständen und Ereignissen der Zeit liefert.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die blonde Dame singt“ ist Kurt Tucholsky. Tucholsky wurde im Jahr 1890 in Berlin geboren. Im Jahr 1919 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Charlottenburg. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg von 1914-1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Epoche ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Es ist als Reaktion auf den literarischen Expressionismus zu werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache zu verwenden. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die zum Beispiel in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz setze den Schriftstellern dieser Zeit noch mal verstärkt Grenzen. 1931 trat die Pressenotverordnung in Kraft, dadurch waren die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate hinweg möglich geworden.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind typisch für diese Epoche der Literatur. Spezielle formale Merkmale weist die Exilliteratur nicht auf. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 210 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 33 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „’s ist Krieg!“, „Abschied von der Junggesellenzeit“ und „Achtundvierzig“. Zum Autor des Gedichtes „Die blonde Dame singt“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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