Der gütige Wandrer von Wilhelm Busch

Fing man vorzeiten einen Dieb,
Hing man ihn auf mit Schnellbetrieb,
Und meinte man, er sei verschieden,
Ging man nach Haus und war zufrieden.
 
Ein Wandrer von der weichen Sorte
Kam einst zu solchem Galgenorte
Und sah, daß oben einer hängt,
Dem kürzlich man den Hals verlängt.
 
Sogleich, als er ihn baumeln sieht,
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Zerfließt in Tränen sein Gemüt.
 
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Ich will den armen Schelm begraben,
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Denkt er, sonst fressen ihn die Raben.
 
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Nicht ohne Müh, doch mit Geschick,
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Klimmt er hinauf und löst den Strick;
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Und jener, der im Wind geschwebt,
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Liegt unten, scheinbar unbelebt.
 
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Sieh da, nach Änderung der Lage
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Tritt neu die Lebenskraft zutage,
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So daß der gute Delinquent
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Die Welt ganz deutlich wiederkennt.
 
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Zärtlich, als wär’s der eigne Vetter,
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Umarmt er seinen Lebensretter,
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Nicht einmal, sondern noch einmal,
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Vor Freude nach so großer Qual.
 
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Mein lieber Mitmensch, sprach der Wandrer,
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Geh in dich, sei hinfür ein andrer.
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Zum Anfang für dein neues Leben
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Werd ich dir jetzt zwei Gulden geben.
 
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Das Geben tat ihm immer wohl.
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Rasch griff er in sein Kamisol,
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Wo er zur langen Pilgerfahrt
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Den vollen Säckel aufbewahrt.
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Er sucht und sucht und fand ihn nicht,
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Und länger wurde sein Gesicht.
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Er sucht und suchte, wie ein Narr,
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Weit wird der Mund, das Auge starr,
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Bald ist ihm heiß, bald ist ihm kalt.
 
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Der Dieb verschwand im Tannenwald.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Der gütige Wandrer“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
38
Anzahl Wörter
224
Entstehungsjahr
nach 1848
Epoche
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der gütige Wandrer“ wurde von Wilhelm Busch verfasst, einem deutschen Dichter und Zeichner, der vor allem durch seine humoristischen, oft bissigen und gesellschaftskritischen Verse in Erinnerung bleibt. Busch lebte von 1832 bis 1908, und sein Schaffen fällt somit in das späte 19. Jahrhundert, eine Zeit, die man als Übergang vom Realismus zum Naturalismus bezeichnet.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht als humorvolle Erzählung mit einer unerwarteten Wendung, typisch für den Stil von Wilhelm Busch.

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines Wanderers, der an einem Galgen vorbeikommt, an dem ein Dieb gehängt wurde. Er ist von Mitgefühl ergriffen und entscheidet, den vermeintlich Toten zu begraben, um ihn vor den Raben zu schützen. Beim Herunterholen des Körpers zeigt dieser jedoch plötzlich Lebenszeichen. Der Dieb, freudig über seine Rettung, umarmt den Wanderer. Dieser rät ihm, sein Leben zu ändern und ihm dies als Übergangsgeschenk, will er ihm zwei Gulden geben. Doch als er seine Geldbörse sucht, findet er diese nicht mehr, und der Dieb verschwindet in den Wald.

Das lyrische Ich, der Wandrer, zeigt sich als hilfsbereit und gütig, der bereit ist, selbst jemandem zu helfen, der für seine Taten bestraft wurde. Doch am Ende wird seine Güte bestraft, indem er bestohlen wird, eine Ironie, die typisch für den Humor Buschs ist.

Formal besteht das Gedicht aus zehn Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl, die sich von eins bis neun bewegen. Es hat ein variables Reimschema, das insgesamt an einen erzählenden Stil erinnert, als ob jemand eine Anekdote erzählt. Die Sprache ist schnörkellos und klar, wobei durch knappe und präzise Beschreibungen eine lebendige Vorstellung der Ereignisse geschaffen wird. Besonders deutlich wird dies in der Schilderung des Tathergangs und der Reaktionen des Wanderers und des Diebes. Daraus erweckt das Gedicht den Eindruck einer lustigen Anekdote mit einem ernsten Hintergrund: dem Konflikt zwischen Gut und Böse, gesehen durch die Augen des gutmütigen, aber letztlich betrogenen Wanderers.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der gütige Wandrer“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Wilhelm Busch. Im Jahr 1832 wurde Busch in Wiedensahl geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1848 bis 1908 entstanden. Wiesbaden u. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 38 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 224 Worte. Weitere Werke des Dichters Wilhelm Busch sind „Ach, wie geht’s dem Heilgen Vater“, „Als Christus der Herr in Garten ging“ und „Als er noch krause Locken trug“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der gütige Wandrer“ weitere 208 Gedichte vor.

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