Der Knabe von Achim von Arnim

Es sonnte sich ein kranker Knabe
Auf seiner armen Mutter Gruft,
Da fasset ihn der Ahndung Gabe,
Er wittert einer Blume Duft,
Die ferne schwebet in dem Meere,
Weit von dem Ende aller Welt,
In die aus hoher lust'ger Leere
Die Sonne wie ein Same fällt.
 
Es glüht auf seiner blassen Wange
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Nun eine Röthe wunderbar,
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Es schwebt sein Ohr in tiefem Klange.
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Es wird sein Auge ihm so klar,
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Es glänzt auf seinem stillen Herzen
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Ein Regenbogen wie ein Strauß,
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Der hat verkündet seine Schmerzen
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Hoch in des Himmels sel'gem Haus.
 
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Dem Himmel hat er ihn verbunden,
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Zeigt ihm das offne Himmelsthor,
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Er schauet nun in Schmerzensstunden,
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Wo Lust ihm nie gezeigt zuvor,
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Wie kann er nun die Welt verschmerzen
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Ihm ist verschwunden aller Graus,
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Sein Herz, gebrochen einst in Schmerzen,
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Sieht froh die Witterung voraus.
 
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Er sieht voraus die Liebestage,
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Wo Hand in Hand sich gern ergeht,
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Manch Mädchen zeigt die Hand zur Frage,
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Weil Er die Linien jetzt versteht;
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Des Knaben Ruf ist weit erschollen,
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Denn jeder frägt nach Witterung,
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Die Alten, weil sie ernten wollen,
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Und weil sich lieben, die noch jung.
 
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Jetzt hat der Schlaf ihn fest umfangen,
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Da nimmt die Mutter seine Hand,
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Da sieht er all, was ihm vergangen,
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Und keine Zukunft er drin fand:
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O Liebe, wo du gegenwärtig,
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Da ist das eigne Leben aus,
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Die Seele ist dann reisefertig,
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Du trägst sie in ein andres Haus.
 
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»O Muttererde laß dich grüßen,
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Du trugst mich treu in stiller Qual,
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Laß deine kühlen Lippen küssen,
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Hast andre Kinder ohne Zahl,
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Doch ich gehör dem Vaterlande,
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Dem Vater in dem Himmelreich,
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Es lösen sich die alten Bande,
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Zum letztenmal die Hand mir reich.«
 
49 
Er kann sich selber nicht begreifen,
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Es wird ihm wohl, so auf einmal,
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Da sieht er dann die Engel schweifen
52 
Auf seines Thränenbogens Strahl,
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Wie sie die bunten Flügel schlagen,
54 
Daß jede Farbe klingt im Glanz,
55 
Er fühlt von ihnen sich getragen,
56 
Den Fuß bewegt in ihrem Tanz.
 
57 
Was ihm das Herz sonst abgestoßen,
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Das singt er jetzt mit kaltem Blut,
59 
Sein Blut hat sich in Lieb' ergossen,
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Und keine Furcht beschränkt den Muth,
61 
Wo sich das Auge sonst geschlossen
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Da hebt es nun den Blick von hier,
63 
Er ruft: Der Himmel ist erschlossen,
64 
Ich fürchte mich nicht mehr vor mir.
 
65 
Da ruft er wonnig allen Lieben:
66 
»Es kommt ein Tag wie's keinen gab,
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Die Ernte dürft ihr nicht verschieben,
68 
Die Liebe greift zum Wanderstab!«
69 
Er ruft: »Brich an du Tag der Sage,
70 
Der ew'ges Wetter mir verspricht!«
71 
Sein Herz schläft ein - am jüngsten Tage
72 
Erwacht es rein zum Weltgericht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Der Knabe“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
72
Anzahl Wörter
430
Entstehungsjahr
1781 - 1831
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Knabe“ wurde von Achim von Arnim verfasst, einem der bedeutendsten Schriftsteller der Romantik, der von 1781 bis 1831 lebte. Die zeitliche Einordnung weist daher auf die Periode der Romantik hin, die von Ende des 18. bis ins 19. Jahrhundert andauert.

Auf den ersten Eindruck vermittelt das Gedicht einen melancholischen und zugleich tröstenden Ton. Der Knabe, trotz seines jungen Alters scheinbar ernsthaft krank, sitzt auf dem Grab seiner Mutter und erfährt eine tiefe spirituelle und sinnliche Wahrnehmung der Welt. Das lyrische Ich beschreibt den Krankheits- und Sterbeprozess des Knaben und seine seelischen Empfindungen.

Das Gedicht handelt von dem Knaben, der angesichts seiner Krankheit und dem Verlust seiner Mutter, eine tiefgründige spirituelle Erfahrung durchlebt. Diese verbindet ihn nicht nur mit dem überirdischen und göttlichen, sondern lässt ihn auch die Schönheit und Liebe der Welt auf einer tieferen Ebene verstehen. Sein Herz, das einst von Schmerz und Leid gezeichnet war, blickt nun freudig in die Zukunft. In seiner letzten Lebensphase sieht er nicht nur das Vergangene, sondern auch eine Zukunft ohne Angst und Furcht, in der er sich auf eine andere Ebene des Seins begibt.

Formal ist „Der Knabe“ in neun gleichlange Strophen unterteilt, jede bestehend aus acht Versen. Diese durchgehende und konstante Form gibt dem Gedicht einen festen Rhythmus und Struktur, welche die abstrakte und metaphorische Sprache des Gedichtes in einen greifbaren Kontext setzt.

Die Sprache des Gedichts ist geprägt von Metaphern und sinnlichen Beschreibungen, die die spirituelle Transformation des Knaben intensiv darstellen. Es sind viele Natur- und Wetterbilder enthalten, wie die Sonne, das Meer, der Regenbogen oder die Witterung, die eine symbolische Bedeutung haben und die geistige Entwicklung und den körperlichen Zustand des Knaben widerspiegeln.

Schließlich läuft das Gedicht auf einen Höhepunkt zu, in dem der Knabe, befreit von seiner körperlichen Leidenslast, mit ungetrübter Freude und Hoffnung in den Himmel schaut und sich auf seine bevorstehende 'Reise' freut. Es ist eine darstellung von Tod und Sterben, die den Tod als Transformation und Übergang in eine andere Ebene des Seins darstellt, und nicht etwa als Ende. Es wird von Arnim in einer tröstenden und hoffnungsvollen Perspektive präsentiert, die das lyrische Ich zum Ausdruck bringt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der Knabe“ ist Achim von Arnim. Der Autor Achim von Arnim wurde 1781 in Berlin geboren. Im Zeitraum zwischen 1797 und 1831 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Romantik zu. Bei dem Schriftsteller Arnim handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Der Romantik vorausgegangen waren die Epochen der Weimarer Klassik und der Aufklärung. Die Literaturepoche der Romantik ist zeitlich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einzuordnen. Insbesondere auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur hatte diese Epoche Auswirkungen. Die Romantik wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden. Die Welt, die sich durch die beginnende Verstädterung und Industrialisierung mehr und mehr veränderte, verunsicherte die Menschen. Die Französische Revolution in den Jahren 1789 bis 1799 hatte ebenfalls Auswirkungen auf die Romantik. In der Literatur der Romantik gilt das Mittelalter als das Ideal und wird verherrlicht. Die Kunst und Architektur der Zeit des Mittelalters werden geschätzt, gepflegt und gesammelt. Missstände dieser Zeit bleiben unberücksichtigt und scheinen bei den Schriftstellern in Vergessenheit geraten zu sein. So ist die Verklärung des Mittelalters ein zentrales Merkmal der Romantik. Des Weiteren sind die Weltflucht, die Hinwendung zur Natur und die romantische Ironie weitere zentrale Merkmale dieser Epoche. Die Grundthemen der Epoche waren Seele, Gefühle, Individualität und Leidenschaft. In der Literatur wurden diese Themen unter anderem durch Motive der Sehnsucht, Todessehnsucht, Fernweh oder Einsamkeit in der Fremde manifestiert. Die Romantik stellt die Freiheit der Phantasie sowohl über die Form als auch über den Inhalt des Werkes. Eine Konsequenz daraus ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Lyrik und Epik. Die starren Regeln und Ziele der Klassik werden in der Romantik zurückgelassen. Eine gewisse Maß- und Regellosigkeit in den Werken fällt auf.

Das Gedicht besteht aus 72 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 430 Worte. Die Gedichte „Schweizerlied“, „Flammenruh nach Weisheit streben“ und „Beichte“ sind weitere Werke des Autors Achim von Arnim. Zum Autor des Gedichtes „Der Knabe“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 173 Gedichte vor.

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