Fabel von einer kleinen Kirche in einer großen Stadt von Achim von Arnim

Lang stand die Kirche klein und enge,
Von hohen Häusern fast versteckt,
Ihr Glöcklein gab nur sanfte Klänge,
Kein Reicher ward davon erweckt;
Nur Handwerksleute, ganz geringe,
Die gingen alle Sonntag hin,
Daß sie ein heilig Wort durchklinge
Mit treuem Muth, mit mildem Sinn.
 
In diesem Kirchlein abgelegen,
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Gar unbeachtet von der Welt,
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Ein alter Herr mit großem Segen
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Seit funfzig Jahren Predigt hält;
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Und Keiner wußte in Pallästen,
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Daß er so herrlich dient der Stadt,
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Von seinen armen Sonntagsgästen
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Wird jeder geistig voll und satt.
 
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Da kommt ein Krieg, macht bang die Reichen;
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Wohl Mancher hört das Glöcklein nun,
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Und möchte sich mit Gott ausgleichen
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Und gleich den armen Leuten thun,
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Und hört des ew'gen Worts Vertrauen,
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Im Kirchlein von dem Gottesmann,
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Und fühlt ein kräftiges Erbauen
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Und fährt im Glück da wieder an.
 
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Bald rollen nach die hohen Wagen,
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Und einer zieht den andern fort,
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Die Brillen junger Leute sagen:
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Daß viel zu sehen sey am Wort.
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Die bunten Pelze, Federhüte,
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Die ziehen hin, auch wenn's zu spät:
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Sie nennen dies der Kirche Blüthe,
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Als ob nun Andacht erst geräth.
 
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Sie drängen sich zu allen Stühlen,
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Die Armen machen willig Platz,
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Sie freuen sich, daß Reiche fühlen,
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Was in dem Alten für ein Schatz;
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Der Duft der Werkstatt ganz verschwindet
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In Wohlgerüchen geistig fein;
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Doch der Gebildete jetzt findet:
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Daß arme Leute gar sehr schrein.
 
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Ist voll ihr Herz, ihr Mund geht über,
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Wer singen lernte, singet sacht;
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Bequem seyn ist den Reichen lieber,
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Sie nehmen alle Stühl' in Pacht,
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Das treibt die Armen von den Sitzen,
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Die Mancher ein halbhundert Jahr:
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Durch die Verjährung zu besitzen
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Und zu vererben sicher war.
 
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Wär Glaube bei euch Reichen mächtig,
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Ihr schafftet Platz für jedermann,
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Ihr bautet eine Kirche prächtig,
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Die Kutscher führen Steine an,
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Ihr lobt den Plan zur großen Kirche,
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Doch euer Lob regt keinen Stein,
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Fabriken baut ihr wie Gebirge,
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Die Gotteshäuser fallen ein.
 
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Getrost ihr Armen, laßt euch lehren,
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Vorüber ging hier Manches schon,
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Bald wird die Neugier andre ehren,
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Und spricht dann eurem Alten Hohn;
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Ich seh vor manchem Gotteshause
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Der Kutschen Reih, als wär da Schmaus,
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Und jetzt, als wär es arm vom Schmause,
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Wächst Gras davor, sie blieben aus.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Fabel von einer kleinen Kirche in einer großen Stadt“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
366
Entstehungsjahr
1781 - 1831
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Fabel von einer kleinen Kirche in einer großen Stadt“ wurde von Achim von Arnim geschrieben, einem deutschen Dichter, der als einer der wichtigsten Vertreter der Heidelberger Romantik gesehen wird und zwischen 1781 und 1831 lebte.

Die erste Einordnung liefert den Eindruck einer sozialen Dualität. Arnim schildert eine Szene, in der eine kleine, anfangs fast unsichtbare Kirche in einer großen Stadt steht. Sie wird hauptsächlich von den Handwerkern und geringen Leuten besucht, während die Reichen von ihr unberührt bleiben.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht eine gesellschaftliche Veränderung, die sich in Relation zur Kirche und ihrer Rolle abspielt. Die kleine Kirche wird zunächst nur von den ärmeren, geringen Handwerkern besucht. Erst als ein Krieg ausbricht, beginnen die Reichen, sich der Kirche zu nähern und ihr Wort zu hören. Sie suchen Trost und Vergebung. Diese plötzliche Anziehung der Reichen zur Kirche führt zu einer Klassenspannung, da die Reichen beginnen, die Sitze in der Kirche zu monopolisieren und die Armen zu verdrängen. Das lyrische Ich kritisiert diesen Umgang der Reichen mit dem Gotteshaus und fordert, dass die Reichen bei ihrem Glaubensbekenntnis bleiben sollten, indem sie einerseits genügend Platz für jeden schaffen und andererseits ein größeres Gotteshaus bauen. Das lyrische Ich sieht jedoch eine Zukunft, in der die Neugier der Reichen nachlässt und die Kirche wieder zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückkehrt.

Das Gedicht ist in achten Strophen gegliedert, jede mit acht Versen, und hat damit eine klare und regelmäßige formale Struktur. Die Sprache ist direkt und verständlich, während der Autor kunstvoll soziale Bildsprache verwendet, um die Kontraste und Spannungen innerhalb seiner Gesellschaft darzustellen. Die Verwendung von Metaphern wie „die Glocke, die die Reichen nicht weckt“, „die Reichen, die alle Stühle in Pacht nehmen“, veranschaulicht das Leitmotiv eines grundlegenden fürsorglichen Glaubens, der von den Reichen verlassen wurde. Der wiederholte Kontrast zwischen den Interessen der Reichen und denen der Armen im Gedicht zeigt Arnims Fähigkeit, komplexe soziale Bedingungen in seinem lyrischen Ausdruck zu erfassen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Fabel von einer kleinen Kirche in einer großen Stadt“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Achim von Arnim. Geboren wurde Arnim im Jahr 1781 in Berlin. Im Zeitraum zwischen 1797 und 1831 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Arnim ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis spät in das 19. Jahrhundert hineinreichte. Insbesondere auf den Gebieten der Literatur, Musik oder der bildenden Kunst hatte diese Epoche umfangreiche Auswirkungen. Die Literaturepoche wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die damalige Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Schriftstellern der Romantik zuwider. Sie stellten sich in ihren Schriften gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. Als Merkmale der Romantik sind die Weltflucht, die Verklärung des Mittelalters, die Hinwendung zur Natur, die Betonung subjektiver Gefühle und des Individuums, der Rückzug in Fantasie- und Traumwelten oder die Faszination des Unheimlichen aufzuführen. Wichtige Symbole sind die Blaue Blume oder das Spiegel- und Nachtmotiv. Strebte die Klassik nach harmonischer Vollendung und Klarheit der Gedanken, so ist die Romantik von einer an den Barock erinnernden Maß- und Regellosigkeit geprägt. Die Romantik begreift die schöpferische Phantasie des Künstlers als unbegrenzt. Zwar baut sie dabei auf die Errungenschaften der Klassik auf. Deren Ziele und Regeln möchte sie aber hinter sich lassen.

Das 366 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Weitere Werke des Dichters Achim von Arnim sind „Der Falke“, „Ehe“ und „Zum Abschiede“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Fabel von einer kleinen Kirche in einer großen Stadt“ weitere 173 Gedichte vor.

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