Warnung vor der Wollust von Christian Fürchtegott Gellert

1	Der Wollust Reiz zu widerstreben,
2	Dies, Jugend, liebst du Glück und Leben,
3	Laß täglich deine Weisheit sein.
4	Entflieh der schmeichelnden Begierde;
5	Sie raubet dir des Herzens Zierde,
6	Und ihre Freuden werden Pein.
7	Laß, ihr die Nahrung zu verwehren,
8	Nie Speis und Trank dein Herz beschweren,
9	Und sei ein Freund der Nüchternheit.
10	Versage dir, dich zu besiegen,
11	Auch öfters ein erlaubt Vergnügen,
12	Und steure deiner Sinnlichkeit.
13	Laß nicht dein Auge dir gebieten;
14	Und sei, die Wollust zu verhüten,
15	Stets schamhaft gegen deinen Leib.
16	Entflieh des Witzlings freien Scherzen,
17	Und such im Umgang edler Herzen
18	Dir Beispiel, Witz und Zeitvertreib.
19	Der Mensch, zu Fleiß und Arbeit träge,
20	Fällt auf des Müßigganges Wege
21	Leicht in das Netz des Bösewichts.
22	Der Unschuld Schutzwehr sind Geschäfte.
23	Entzieh der Wollust ihre Kräfte
24	Im Schweiße deines Angesichts.
25	Erwacht ihr Trieb, dich zu bekämpfen;
26	So wach auch du, ihn früh zu dämpfen,
27	Eh er die Freiheit dir verwehrt.
28	Ihn bald in der Geburt ersticken,
29	Ist leicht; schwer ist's, ihn unterdrücken,
30	Wenn ihn dein Herz zuvor genährt.
31	Oft kleiden sich des Lasters Triebe
32	In die Gestalt erlaubter Liebe,
33	Und du erblickst nicht die Gefahr.
34	Ein langer Umgang macht dich freier;
35	Und oft wird ein verbotnes Feuer
36	Aus dem, was anfangs Freundschaft war.
37	Dein fühlend Herz wird sich's verzeihen;
38	Es wird des Lasters Ausbruch scheuen,
39	Indem es seinen Trieb ernährt.
40	Du wirst dich stark und sicher glauben,
41	Und kleine Fehler dir erlauben,
42	Bis deine Tugend sich entehrt.
43	Doch nein, du sollst sie nicht entehren,
44	Du sollst dir stets die Tat verwehren;
45	Ist drum dein Herz schon tugendhaft?
46	Ist's Sünde nur, die Tat vollbringen?
47	Sollst du nicht auch den Trieb bezwingen,
48	Nicht auch den Wunsch der Leidenschaft?
49	Begierden sind es, die uns schänden;
50	Und ohne daß wir sie vollenden,
51	Verletzen wir schon unsre Pflicht.
52	Wenn du vor ihnen nicht errötest,
53	Nicht durch den Geist die Lüste tötest:
54	So rühme dich der Keuschheit nicht!
55	Erfülle dich, scheinst du zu wanken,
56	Oft mit dem mächtigen Gedanken:
57	Die Unschuld ist der Seele Glück.
58	Einmal verscherzt und aufgegeben,
59	Verläßt sie mich im ganzen Leben,
60	Und keine Reu bringt sie zurück.
61	Denk oft bei dir: Der Wollust Bande
62	Sind nicht nur dem Gewissen Schande,
63	Sie sind auch vor der Welt ein Spott.
64	Und könnt ich auch in Finsternissen
65	Den Greul der Wollust ihr verschließen:
66	So sieht und findet mich doch Gott.
67	Die Wollust kürzt des Lebens Tage,
68	Und Seuchen werden ihre Plage,
69	Da Keuschheit Heil und Leben erbt.
70	Ich will mir dies ihr Glück erwerben.
71	Den wird Gott wiederum verderben,
72	Wer seinen Tempel hier verderbt.
73	Wie blühte nicht des Jünglings Jugend!
74	Doch er vergaß den Weg der Tugend;
75	Und seine Kräfte sind verzehrt.
76	Verwesung schändet sein Gesichte,
77	Und predigt schrecklich die Geschichte
78	Der Lüste, die den Leib verheert.
79	So rächt die Wollust an den Frechen
80	Früh oder später die Verbrechen,
81	Und züchtigt dich mit harter Hand.
82	Ihr Gift wird dein Gewissen quälen;
83	Sie raubet dir das Licht der Seelen,
84	Und lohnet dir mit Unverstand.
85	Sie raubt dem Herzen Mut und Stärke,
86	Raubt ihm den Eifer edler Werke,
87	Den Adel, welchen Gott ihm gab;
88	Und unter deiner Lüste Bürde
89	Sinkst du von eines Menschen Würde
90	Zur Niedrigkeit des Tiers herab.
91	Drum fliehe vor der Wollust Pfade,
92	Und wach und rufe Gott um Gnade,
93	Um Weisheit in Versuchung an.
94	Erzittre vor dem ersten Schritte;
95	Mit ihm sind schon die andern Tritte
96	Zu einem nahen Fall getan.

Details zum Gedicht „Warnung vor der Wollust“

Gedicht-Analyse

Christian Fürchtegott Gellert ist der Autor des Gedichtes „Warnung vor der Wollust“. Der Autor Christian Fürchtegott Gellert wurde 1715 in Hainichen geboren. Zwischen den Jahren 1731 und 1769 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Aufklärung zuordnen. Bei Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 558 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Christian Fürchtegott Gellert sind „Der reiche Geizhals“, „Der Leichtsinn“ und „Das Kind mit der Schere“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Warnung vor der Wollust“ weitere 164 Gedichte vor.

Weitere Gedichte des Autors Christian Fürchtegott Gellert (Infos zum Autor)

• Der Selbstmord
• Nicht jede Besserung ist Tugend
• Der Jüngling und der Greis
• Krispin und Krispine
• Das Testament
• Der reiche Geizhals
• Der Leichtsinn
• Das Kind mit der Schere
• Der junge Krebs und die Seemuschel
• Das Glück und die Liebe

Zum Autor Christian Fürchtegott Gellert sind auf abi-pur.de 164 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.