Krispin und Krispine von Christian Fürchtegott Gellert

Daß oft die Weiber bis ins Grab
Sich mit den Männern schlecht vertragen,
Sind leider schon sehr alte Klagen,
Die man uns oft zu lesen gab.
Doch daß die Männer bis ins Grab
So manche gute Gattin plagen,
Sind dies nicht auch gerechte Klagen?
Doch welcher Sänger singt sie ab?
Daß oft die Frau zum Zeitvertreibe
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Dem Manne zänkisch widerspricht,
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Darüber klagt manch Spottgedicht.
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Doch daß der Mann mit seinem Weibe
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Oft als mit einer Sklavin spricht,
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Wie selten straft dies ein Gedicht!
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Daß Weiber nicht zu folgen wissen,
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Darüber seufzt und klagt der Mann.
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Doch sollte man daraus nicht schließen,
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Daß Männer nicht zu herrschen wissen,
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Weil ihre Frau so schwer gehorchen kann?
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Daß Weiber gern dem Staate sich ergeben
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Und leben, um geputzt zu leben,
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Darüber sorgt der Mann sich grau.
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Doch daß die Männer sich dem Kaltsinn gern ergeben,
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Nur sich, nicht ihren Weibern leben,
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Wie sehr beseufzt dies manche Frau!
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Daß bei dem Reiz der äußerlichen Gaben
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Die Weiber oft der Seele Reiz nicht haben,
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Dies ist vielleicht nicht selten wahr.
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Doch daß die Männer oft nur Geld und Schönheit ehren,
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Der Frau, Verstand zu haben, wehren,
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Sie durch ihr Beispiel Torheit lehren
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Und über Torheit sich beschweren,
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Klingt in der Tat sehr wunderbar;
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Und dennoch ist's nicht selten wahr.
 
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Drum, Männer, lest ihr, wie Krispine
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So herzlich den Krispin gehaßt:
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So legt's nicht gleich mit einer Männermiene
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Der armen Frau allein zur Last.
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Und seid ihr selbst unglückliche Krispine,
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So denkt, wie euch Krispine haßt:
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Ob ich's vielleicht wohl gar verdiene?
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Und bessert euch. Vielleicht tut's auch Krispine.
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Krispine starb, und binnen wenig Tagen
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Starb auch Krispin, ihr Mann, schon nach,
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Und zwar vor lauter Schmerz und Ach,
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Wenn wir das Leichencarmen fragen.
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Doch viele wollten lieber sagen,
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Der Zorn hätt' ihn dahingerafft;
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Allein der Zorn ist nicht der Männer Leidenschaft.
 
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Genug, er starb und ward, weil er's so haben wollte,
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Daß sein Gebein bei der verwesen sollte,
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Die ihn gewartet und gepflegt,
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Zu seiner Frau ins Grab gelegt.
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So lag denn Mann und Weib in Einer Gruft vereinet;
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Und niemand hätte das vermeinet,
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Was nach der Zeit mehr als zu oft geschehn.
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Die Frau ließ sich bei ihrem Grabe
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Des Nachts im Sterbekleide sehn.
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Der Küster und des Küsters Knabe,
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Keins wollte mehr zum Morgenläuten gehn;
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Denn allemal ließ sich Krispine sehn
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Und wies ganz ängstlich nach dem Grabe.
 
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Der Küster wagt's den neunten Tag
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Und ruft die sämtlichen Krispinen,
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Macht dreimal erst das Kreuz und sagt, wer ihm erschienen,
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Und forscht und überlegt mit ihnen,
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Was doch die Ruh' der Sel'gen stören mag.
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»Hat sie vielleicht im Tode was befohlen?«
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»Nichts«, fing die Freundschaft an, »nichts als den Leichenstein.«
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»Das«, ruft der Küster, »wird es sein.«
 
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Man läßt geschwind den schönsten Grabstein holen;
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Der Steinmetz haut zwei Herzen in den Stein
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Und diese Schrift vom Küster ein:
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»Hier ruht ein zärtlich Paar voll gleicher Lieb' und Treue;
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Der Tod, der sie getrennt, vereinte sie aufs neue.«
 
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Nun wird die Frau doch ruhig sein?
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Nichts weniger. War sie zuvor erschienen,
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Erschien sie nur noch mehr und mit noch bängern Mienen
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Und lief dem guten Küster nach
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Und öffnete den Mund, als ob sie sprechen wollte;
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Allein ein unvernehmlich Ach,
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Dies war es alles, was sie sprach.
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Wer wußte nun, was das bedeuten sollte?
 
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Man öffnete das Grab. Es war kein Sarg versehrt,
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Und wie man sie gelegt, so lagen sie noch heute;
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Zur rechten er und sie zur linken Seite.
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»Nein«, schrie der Küster, »umgekehrt!
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Ihr, Totengräber, seid nicht wert -«
 
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Der Sarg ward umgesetzt; allein die Folge lehrte,
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Daß nicht der Rang des Weibes Ruhe störte.
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Mich deucht, dies ist der Schönen Fehler nicht.
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Und ist er's ja, wie mancher Spötter spricht:
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So ist er's doch im Grabe nicht.
 
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Krispine ließ nicht nach, dem Küster zu erscheinen.
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Sie weinte so, wie Schatten weinen,
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Wies immer auf ihr Grab und machte mit der Hand
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Ein Zeichen, das zuletzt der Küster doch verstand.
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Er ließ noch diese Nacht den Totengräber kommen.
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Der Mann ward aus der Gruft genommen
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Und weit davon besonders eingescharrt.
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Und noch in beider Gegenwart
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Verschwand die Frau mit heitern Mienen
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Und ist seitdem nicht mehr erschienen.

Details zum Gedicht „Krispin und Krispine“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
103
Anzahl Wörter
695
Entstehungsjahr
1715 - 1769
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Krispin und Krispine“ ist Christian Fürchtegott Gellert. Gellert wurde im Jahr 1715 in Hainichen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1731 und 1769. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Aufklärung zuordnen. Bei Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 103 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 695 Worte. Weitere Werke des Dichters Christian Fürchtegott Gellert sind „Der Selbstmord“, „Nicht jede Besserung ist Tugend“ und „Der Jüngling und der Greis“. Zum Autor des Gedichtes „Krispin und Krispine“ haben wir auf abi-pur.de weitere 164 Gedichte veröffentlicht.

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