Die beiden Wandrer von Christian Fürchtegott Gellert

Zween Wandrer überfiel die Nacht,
»O Velten, nimm dich ja in acht«,
Sprach Kunz, von Schrecken eingenommen,
»Damit wir nicht vom Wege kommen.
Dort läßt sich schon ein Irrlicht sehn.
Nur daß wir uns nicht selber blenden
Und uns nach diesem Lichte wenden;
Sonst ist es um den Weg geschehn!«
 
»Schon gut!« rief Velten, »eile nur.
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Doch, Bruder, wenn ich die Natur,
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Und was ein Irrlicht sagen wollte,
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Nur einmal recht verstehen sollte!
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Studierte nennen es die Dunst,
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Die aus den Sümpfen aufgestiegen.
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Ich weiß nicht, ob die Leute lügen;
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Denn oft ist Lügen ihre Kunst.«
 
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»Sprich, Velten, ob du töricht bist;
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Du weißt nicht, was ein Irrlicht ist?
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O dürft' ich's nur bei Nachtzeit wagen!
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Ich wollte dir's wohl anders sagen.
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Ist's wahr, daß du kein Irrlicht kennst,
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Und bist schon nah' an dreißig Jahre?
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Ein Irrlicht, daß mich Gott bewahre!
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Ein Irrlicht, das ist ein Gespenst.
 
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»Den Drachen hast du doch gesehn,
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Der, wie zu Steffens Zeit geschehn,
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Bei Kleindorf im Vorüberziehen
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Getreid' und Kälber ausgespieen.
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Das, was der Drach' im Großen heißt,
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Nenn' ich das Irrlicht gern im Kleinen;
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Denn da sie nur bei Nacht erscheinen,
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So sind sie wohl kein guter Geist.«
 
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»Nein, Kunz, nein! sag' ich! Nimmermehr!
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Ein Irrwisch ist kein wütend Heer.
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Ich, ohne, Kunz, dich dumm zu nennen,
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Muß die Gespenster besser kennen.
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Ein Rübezahl, ein solches Tier,
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Als zu Gehofen ehedessen
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Die Küch' im Edelhof besessen,
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Dies sind Gespenster, glaube mir!
 
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Ein Irrwisch muß was anders sein.«
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K. »Wie, Velten, nennst du diesen Schein?«
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V. »Ich nenn' ihn Irrwisch.« K. »Ist's erhöret?
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Wer hat dich wieder das gelehret?
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Ein Irrlicht heißt's, kein Irrwisch nicht;
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So spricht man ja mein Lebetage.«
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V. »So spräche man? Nein, Kunz, ich sage,
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Daß alle Welt ein Irrwisch spricht.«
 
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K. »Schweig, Velten, das klingt lügenhaft.
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Ich hab' es auf der Wanderschaft
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Und, Bruder, ohne viel zu schwören,
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Von Meistern Irrlicht nennen hören.«
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So stritten sie noch lange Zeit
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Itzt um die Sach', itzt um den Namen,
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Bis sie zuletzt vom Wege kamen;
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Und schimpfend schlossen sie den Streit.
 
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So streiten unstudierte Velten
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Um Sachen, die sie nicht verstehn,
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Und endigen den Streit mit Schelten.
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Die Toren sollten erst zu den gelehrten Velten
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Und Kunzen in die Schule gehn!
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Die streiten dialektisch schön
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Und ohne Wortkrieg, ohne Schelten
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Um Dinge, die sie ganz verstehn,
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Und fehlen ihres Weges selten,
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Weil sie den Weg der Schulen gehn;
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Denn da läßt sich kein Irrlicht sehn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Die beiden Wandrer“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
67
Anzahl Wörter
405
Entstehungsjahr
1715 - 1769
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Die beiden Wandrer“ ist Christian Fürchtegott Gellert. Im Jahr 1715 wurde Gellert in Hainichen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1731 und 1769. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Aufklärung zuordnen. Bei Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 405 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 67 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Der Dichter Christian Fürchtegott Gellert ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück und die Liebe“, „Die Lerche“ und „Der Geheimnisvolle“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die beiden Wandrer“ weitere 164 Gedichte vor.

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