Die Russin von Theodor Däubler

Ich sah sie einst. Sie stand auf dem Mondlichtbalkone.
Der Frühling verblühte in Beeten und Töpfen.
Ihr goldenes Haar, eine luftige Krone,
Verrankte, verlor sich in offenen Zöpfen.
 
Ihr griechisches Doppelkreuz grüßte die Brüste,
Die immer zum Kreuz hinan wogten und wallten,
Als ob es die Seele sanft wachhalten müßte.
Der Mondschimmer kam, ihren Traum zu erhalten.
 
Bald lachten die Sicheln fast männlicher Zähne.
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Sie glänzten hinaus zu den horchenden Sternen.
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Es trug schon die Nacht ihre feurige Mähne,
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Sie schwang sich als Stute durch Steppen und Fernen.
 
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Die Augen der Russin vermuteten Meere.
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Sie regten sich stets in der furchtbaren Stille.
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Es nahte ein Augenblick schrecklicher Leere,
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Doch unentwegt zuckte die goldne Pupille.
 
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Dann schenkte die Ebne sich kühlende Winde.
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Die Russin erwachte und spürte die Kälte.
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Zitternd zerband sie die Fenstergewinde,
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Versperrte sich, schwand. Und ein ferner Hund bellte
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.5 KB)

Details zum Gedicht „Die Russin“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
141
Entstehungsjahr
1876 - 1934
Epoche
Naturalismus,
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts „Die Russin“ ist Theodor Däubler, ein deutscher Schriftsteller und Lyriker, der von 1876 bis 1934 lebte. Das Gedicht kann somit der Epoche des Expressionismus zugeordnet werden, die von etwa 1910 bis 1925 andauerte.

Beim ersten Lesen erzeugt das Gedicht einen starken Eindruck von Kinästhetik und Dynamik, mit lebendigen Bildern von Bewegung und einer untergründigen Leidenschaft.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht die Beobachtung einer Russin durch das lyrische Ich. Sie steht auf einem Balkon im Mondlicht und der Frühling befindet sich gerade in seiner letzten Blüte. Das lyrische Ich beschreibt ihr goldenes Haar, das sich in offenen, luftigen Zöpfen verliert und ein griechisches Doppelkreuz, das ihre Brust ziert und das sich zu bewegen scheint. Der Mond leuchtet auf sie herab und scheint ihren Traum zu bewahren. Dabei scheint die Russin gleichzeitig andächtig und abwesend – sie stellt einen Kontrast zur nächtlichen Landschaft dar, ihre Augen spiegeln mutmaßlich Meere und sie kämpft gegen eine kommende, schreckliche Leere. Schlussendlich erwacht sie, spürt die Kälte der Nacht und schließt die Fenster. Das gedicht endet mit dem verwirrenden Bild eines „fernen Hund[es]“, der „bellt“.

Die scheinbare Faszination, aber auch Distanziertheit des lyrischen Ichs gegenüber der Russin könnte als Ausdruck einer Faszination für das Fremde und Unbekannte gedeutet werden. Gleichzeitig kann die Darstellung der Russin als rätselhafter und distanzierter Figur den kulturellen und politischen Spannungen der Zeit geschuldet sein.

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen mit jeweils vier Versen und verwendet eine reichhaltige und bildhafte Sprache. Die Sprache ist geprägt von Metaphern und auffälligen Bildern, die ein Gefühl von Dynamik und Tanz erzeugen. Darüber hinaus macht Däubler von Personifikation und Vergleichen („sie schwang sich als Stute durch Steppen und Fernen“) Gebrauch, die die sinnliche Natur der Russin betonen und zur Atmosphäre des Gedichts beitragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Däubler in „Die Russin“ eine starke Atmosphäre schafft, die durch seine intensive und lebendige Sprache und die geschickte Verwendung poetischer Mittel unterstützt wird.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Russin“ des Autors Theodor Däubler. Der Autor Theodor Däubler wurde 1876 in Triest geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1892 bis 1934 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus, Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das 141 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 20 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Der Dichter Theodor Däubler ist auch der Autor für Gedichte wie „Oft“, „Dämmerung“ und „Diadem“. Zum Autor des Gedichtes „Die Russin“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 11 Gedichte vor.

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