Nach dem Kongreß von Rudolf Lavant

In strenger Hast habt ihr den Aar gehalten,
Der lang gewöhnt an freie Sonnenflüge
Und der auf jedem seiner Siegeszüge
Die Wolkenwände flügelstark gespalten.
Ihn, der gewöhnt, auf ungehemmten Reisen
Das Reich der Lüfte sausend zu durchmessen
Und stundenlang im ew’gen Blau zu kreisen,
Zwangt ihr, ans Gitter seinen Kopf zu pressen.
 
Er war ein Bild des Kummers und der Trauer;
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Im königlichen Blick die stumme Klage,
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Verträumte brütend er die langen Tage,
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Und griff ans Herz dem kältesten Beschauer.
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Kein Laut entrang sich der gepreßten Kehle,
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Doch war’s dem stolzen Dulder anzusehen,
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Daß ihm der Freiheit reiner Odem fehle
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Und daß er schweigend werde untergehen.
 
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Doch las man deutlich auch in seinen Augen,
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Daß aller Gram der Jahre und der Wochen
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Den Trotz und Stolz der Seele nicht gebrochen
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Und daß zum Sklaven nie er werde taugen.
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Ihr habt versucht, mit ausgewählten Brocken
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Den Grollenden, der finster da gesessen,
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Zu euch herüber allgemach zu locken,
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Doch hat er niemals aus der Hand gefressen.
 
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Gefangenschaft macht kirre zwar gewöhnlich,
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Doch sucht umsonst ihr aus dem Adlerherzen
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Den Durst nach Freiheit listig auszumerzen –
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Untröstlich bleibt er stets und unversöhnlich.
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Ihr bändigt nie sein innres Widerstreben,
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Ob ihr ihn schlagen mögt, ob ihr ihm schmeichelt;
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Den Raub der Freiheit kann er nicht vergeben
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Und hackt nach eurer Hand, wenn ihr ihn streichelt.
 
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Nun ist er frei nach langem Harren wieder;
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Halb zweifelnd noch, ob er zur Freiheit führe,
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Betritt den Weg er durch des Käfigs Thüre
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Und bläht im Hauch des Nordwinds sein Gefieder.
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Er schreitet aus, als ob auf seinem Sitze
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Er lahm geworden und das Gehen lerne;
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Aus halb erloschnem Auge zucken Blitze
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Und forschend späht er in die Höh’ und Ferne.
 
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Nur ein Erinnern blieb aus alten Tagen
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Und will verwirren ihn und übermannen;
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Die Schwingen will, wie ehedem, er spannen,
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Doch matt und ungelenk noch ist ihr Schlagen.
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Durch alle Poren Hauch der Freiheit witternd,
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Verzehrt von wildem, fieberndem Verlangen –
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So sammelt sich, in jeder Fiber zitternd,
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Zum ersten Flug der Adler, der gefangen.
 
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Kennt ihr ihn wieder noch, den stummen, trägen?
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Mit einem Mal hat er die Kraft gefunden
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Und sich dem Bann des Sklaventhums entwunden
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Mit nervigen, gewalt’gen Flügelschlägen!
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Er schießt empor, ein Pfeil, geschnellt vom Bogen,
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Er schwimmt im Blau mit Fittichen von Eisen
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Und hat bereits den Blicken sich entzogen
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In immer engern regelrechten Kreisen.
 
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Nur einen Schrei habt ihr von ihm vernommen –
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Den Schrei der Freiheit, hell und scharf und klingend,
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Bevor, sich hoch und immer höher schwingend,
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Als Punkt im Blau allmälig er verschwommen.
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Und wer den Schrei gehört, den Flug gesehen,
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Wird keinen Aar durchs Sklavenjoch mehr zerren;
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Dafern er weise, hat er eingesehen,
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Daß Thorheit es, die Adler einzusperren.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Nach dem Kongreß“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
452
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Nach dem Kongress“ stammt von dem deutschsprachigen Dichter Rudolf Lavant, der im 19. Jahrhundert lebte und arbeitete. Diese Zeit war auch das Zeitalter des sogenannten Biedermeier, geprägt von politischen Restaurationen und Revolutionskämpfen, die auch in der Literatur ihren Niederschlag fanden.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht als Betrachtung eines Adler, der eingesperrt und schließlich wieder befreit wird. Es zeigt die Leiden des Adlers in Gefangenschaft, seinen unbezwingbaren Geist und schließlich seine Freude an der erlangten Freiheit.

Dennoch ist es wahrscheinlich, dass das Gedicht eher eine Metapher ist, und mit dem Adler die Menschen gemeint sind, die nach politischen Stürmen und gesellschaftlichen Umbrüchen gefangen gehalten wurden. Das lyrische Ich scheint zu bedauern, dass der „Adler“ (oder das einzelne Individuum oder eine ganze Nation) in Gefangenschaft geraten ist und kommt zu dem Schluss, dass es weitaus besser ist, ihn in seiner natürlichen Umgebung in Freiheit zu lassen.

Das Gedicht ist in achtsilbigen Versen verfasst und einer konsequenten Kreuzreimstruktur (abab-cdcd usw.) unterworfen, die den Fluss der Erzählung betont Die Sprache des Gedichts ist entschieden pathetisch, mit der Verwendung von starken, leidenschaftlichen Ausdrücken und Phrasen, die Leid und Stolz hervorrufen. Dieser intensive emotionale Ton verleiht dem Gedicht eine dringliche und druckvolle Atmosphäre, hebt den Kontrast zwischen Gefangenschaft und Freiheit hervor und unterstreicht die zentrale Botschaft der Ungerechtigkeit der Unterdrückung.

Zusammengefasst ist „Nach dem Kongress“ von Rudolf Lavant ein leidenschaftliches und nachdenkliches Gedicht, das mit seiner Metaphorik und seiner expressiven Sprache auf die politischen Umwälzungen seiner Zeit hindeutet. Darüber hinaus ist es eine eindrucksvolle Ode an die Unbeugsamkeit des menschlichen Willens und die unerlässliche Bedeutung der Freiheit.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Nach dem Kongreß“ des Autors Rudolf Lavant. Der Autor Rudolf Lavant wurde 1844 in Leipzig geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. Der Erscheinungsort ist Stuttgart. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 452 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 64 Versen. Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An die alte Raketenkiste“, „An unsere Feinde“ und „An unsere Gegner“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Nach dem Kongreß“ weitere 96 Gedichte vor.

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