London von Rudolf Lavant
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Im Osten Londons herrscht’s, des Winters Weh: |
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Mit starrem Frost, mit Eis und Sturm und Schnee |
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Ist lebenmordend es hereingebrochen, |
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Und gelber Nebel, zäh und greifbar dicht, |
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Erstickt des Wintertages mattes Licht |
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Für die Verkümmernden seit vielen Wochen. |
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Es fehlt an Arbeit, Kohle, Kleidung, Brot. |
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Elfhunderttausend Menschen saugt die Noth |
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Den letzten Tropfen Blut, das Mark der Knochen. |
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Was nicht verpfändet wurde, wird verbrannt; |
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So leiden sie, Verzweiflung-übermannt, |
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Doch ohne Klagelaut – seit vielen Wochen. |
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Sie würden schaffen mit der letzten Macht, |
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Sie würden schaffen, rastlos, Tag und Nacht, |
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Bis unterm Nagel vor das Blut gequollen. |
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Doch alle Stätten liegen stumm und leer: |
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Für all’ die Arme keine Arbeit mehr |
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In dieser Riesenstadt, der arbeitvollen! |
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Und Frost und Hunger führen wie im Spiel |
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Zu Krankheit erst und dann ans düstre Ziel: |
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In Noth und Kummer Zoll um Zoll verderben. |
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Von Haus zu Haus die fahle Seuche schleicht, |
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Bis Londons Osten einem Friedhof gleicht |
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Und wie die Fliegen die Entnervten sterben. |
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Der Westen hat zur Weihnachtszeit gepraßt |
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Und baß geschlemmt – nun macht er still gefaßt |
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Und respektabel mit dem Himmel Frieden, |
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Und sucht und findet jene Heiterkeit |
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Und innre Ruhe, die da allezeit |
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Dem zahlungsfäh’gen Bürgerthum beschieden. |
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Vom Osten weiß er nichts, und wenig frommt |
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Zu wissen auch, wie dorten man verkommt – |
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Es wird die Weihe seiner Stimmung stören. |
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Um ihn und in ihm ist es sonntagsstill – |
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Vom Frieren, Hungern und Verhungern will |
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Am heil’gen Sabbath nichts der Westen hören. |
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Und in der Woche hat er keine Zeit. |
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Da will verdient sein und die Welt ist weit |
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Und über Meere spann er seine Fäden. |
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Wenn nur der Schacher blüht nach seinem Sinn, |
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Nimmt in der Heimath resignirt er hin |
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Die „unvermeidlichen, fatalen Schäden!“ |
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Der Westen rechnet sicher und erwirbt – |
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Entblößt von Arbeit, hungert, friert und stirbt |
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Der Osten Londons, ärmer stets und trüber. |
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Ein dumpfer Nothschrei zittert durch das Land, |
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Das Maß des Elends füllt sich bis zum Rand, |
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Wann, stolzes, frommes England, fließt es über? |
Details zum Gedicht „London“
Rudolf Lavant
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1893
Naturalismus,
Moderne
Gedicht-Analyse
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „London“ des Autors Rudolf Lavant. Lavant wurde im Jahr 1844 in Leipzig geboren. 1893 ist das Gedicht entstanden. In Stuttgart ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 327 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Der Dichter Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Frauen“, „An die alte Raketenkiste“ und „An unsere Feinde“. Zum Autor des Gedichtes „London“ haben wir auf abi-pur.de weitere 96 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Rudolf Lavant sind auf abi-pur.de 96 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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