Geburtstag der Kaiserin in Viéville von Walter Flex
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Was geht heute vor in Viéville? |
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Musik marschiert auf und rührt das Spiel. |
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Durch die granatenzerfetzten Straßen |
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läuft Trommelwirbel und Hörnerblasen … |
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Wir feldgrauen Männer im Osten und Westen |
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Haben sonst nicht Zeit zu Singsang und Festen. |
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Wir haben kaum Zeit zum Schlafen und Essen |
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und können Ostern und Pfingsten vergessen. |
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Wir liegen vor feindlichen Gräben und Mauern, |
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schanzen und schießen und wachen und lauern. |
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Jubelfanfaren und Siegesfeste |
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sind gut fürs Zuhaus im warmen Neste. |
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Aber das Heut trägt besonderen Sinn: |
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Es gilt den Geburtstag der Kaiserin! |
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Spiegel der Mütter! Zum blutigen Strauß |
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stellt sie sechs kernhafte Söhne hinaus. |
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Ehrendienst, Frauendienst, Gottesdienst – |
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Der Tag trägt ein Festkleid von Goldgespinst! |
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Zu Feldgottesdienst, Choral und Gebet, |
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zur Heerschau vor Gott die Truppe steht. |
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Sechsundfünfziger Kanoniere |
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und wir, die fünfziger Musketiere. |
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Das feldgraue Viereck steht aufmarschiert, |
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der Feldaltar von Geschützen flankiert, |
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unsre Schlachtenfahne, seidig entrollt, |
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bauscht sich in Blauluft und Sonnengold. |
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Regimentsmusik ist festlich zur Stelle. |
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Über Trommeln und Hörner fließt Sonnenhelle. |
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Die Instrumente sind blind und zerbeult, |
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in ihr Spiel hat das Schlachtenwetter geheult. |
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Macht nichts. Sie können doch brausen und dröhnen, |
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Gott zu dienen, den Feind zu höhnen! |
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Der Musikmeister reckt sich. Der Chor hebt an, |
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Ihr Lieblingschoral: Jesu, geh voran! |
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Über Welschlands Wälder und Rebenhänge |
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wandern die königlichen Klänge. |
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Lutheraner, Katholiken fallen ein, |
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von Verdun her orgeln Kanonen darein … |
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Der Prediger liest aus dem heiligen Buch |
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bei Jesus Sirach den lauteren Spruch |
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vom Segen, mit dem das Haus sich ziert, |
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wo am Herd ein tugendsam Weib regiert. |
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Er spricht von den deutschen Müttern zu Haus, |
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alle Herzen lauschen ins Weite hinaus |
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nach der Mütter frommem und friedsamem Schritt … |
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Alle Herzen predigen leise mit: |
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„Gott hat die Herzen der Mütter geweiht |
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zu Opferschalen der großen Zeit! |
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Legt täglich ein Liebsopfer hinein, |
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und wär’ es nur ein Ich-denke-dein, |
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nur ein Stoßgebet, nur ein Herzaufwallen, |
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die Gabe wird Gott, dem Allgüt’gen, gefallen! |
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Wer die deutsche Mutter im Herzen trägt, |
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sich mit sauberem Leib durch die Hölle schlägt. |
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Kam’rad, halte heilig den deutschen Leib! |
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Im welschen ehrst du das deutsche Weib. |
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Das deutsche Weib trägt ein Ehrenkleid; |
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Schatzhüterin, hegt sie das deutsche Leid, |
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das deutsche Leid, das heilige Leid, |
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keinen Flecken, Kam’rad, auf ihr priesterlich Kleid! |
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Die deutsche Frau will reines Dienen, |
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das reinste die Königin unter ihnen! |
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Ihr dienen wir immer mit herzlichem Sinn, |
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der Mutter des Volkes, der Kaiserin! |
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Man will ihr die lichte Krone zerschlagen … |
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Einer Welt zum Trotze, sie soll sie tragen! |
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In Königs Rock, in Volkes Sold |
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streiten wir für Ihr heiliges Gold. |
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Der Welt zum Trotze ein brausend Hurra |
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der Kais’rin Auguste Viktoria!…“ |
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Hat’s der Mann am Feldaltar vorgebetet? |
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Hat das deutsche Herz mit sich selber geredet? … |
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Amen. Das feldgraue Viereck steht. |
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Vom Altar tönt’s: Helm ab zum Gebet! |
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Vater, in deine Hände mein Leben |
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und das Herz der Mutter, die mir’s gegeben! … |
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Und wieder Trommeln und Hörnerdröhnen. |
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Gott zu Ehren, Welschland zu höhnen. |
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Gott zu Ehren, den Feinden zum Spott |
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braust es „Nun danket alle Gott…“ |
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Stillgestanden! Dann schwenken und ziehen |
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zurück ins Quartier die Kompanien. |
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Musik voraus, die Straßen entlang |
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bis zum Brunnen der Jungfrau von Orleans. |
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Konzert für das fünfzigste Regiment |
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vor der ehernen Jungfrau Steinpostament! |
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Hell schmettern die Regimentskapellen. |
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Das Kriegsvolk hockt auf den Häuserschwellen |
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schwatzend und rauchend in guter Ruh; |
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scheel und finster schauen die Welschen zu. |
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Schmettern fährt ihnen durch Mark und Bein |
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der Preußenmarsch und die Wacht am Rhein. |
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Zu des welschen Himmels blaugoldigem Glanz |
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Schwillt empor das „Heil Dir im Siegerkranz!“ |
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Die Musketiere im Schlenderschritt |
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flanieren vorüber und pfeifen mit. |
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In Gruppen plaudern die Offiziere, |
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Musketiere und Kanoniere. |
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Zeitungen gehen von Hand zu Hand |
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und machen neue Siege bekannt. |
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Vorüber der Tag. Die Nacht bricht ein. |
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Über Dächer und Wälder fließt Mondenschein. |
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Schwatzend und rauchend im Strohquartiere |
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ruhn Musketiere und Kanoniere. |
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Durch die Nacht geht deutscher Soldatensang … |
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Im Mond steht die Jungfrau von Orleans. |
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Der Brunnen plätschert zu ihren Füßen, |
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er weiß keinen Trost, nicht herben noch süßen. |
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Vor dem Erzbild auf steinernem Postament |
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steht Schildwacht vom fünfzigsten Regiment. |
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Der Brunnen träumt Märchen von Frankreichs Ehre, |
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der Mond blinkt über die deutschen Gewehre.... |
Details zum Gedicht „Geburtstag der Kaiserin in Viéville“
Walter Flex
4
112
679
nach 1903
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus
Gedicht-Analyse
Das vorgegebene Gedicht trägt den Titel „Geburtstag der Kaiserin in Viéville“ und stammt von Walter Flex, einem deutschen Schriftsteller und Dichter, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Flex wurde im Jahr 1887 geboren und starb 1917. Seine Schaffensphase fiel also in die Zeit des späten Wilhelminismus und des Ersten Weltkriegs, was sich auch in seinen Werken wiederspiegelt.
Auf den ersten Blick hinterlässt das besagte Gedicht einen feierlichen, aber auch ernsten Eindruck. Dies liegt vor allem an der feierlichen Stimmung, die in den Versen beschrieben wird, sowie an den häufigen Bezügen zum Krieg und zum Soldatenleben. Der Inhalt des Gedichts lässt sich in einfacheren Worten wie folgt zusammenfassen: In Viéville, einer französischen Stadt, findet anlässlich des Geburtstages der deutschen Kaiserin eine Festlichkeit statt. Die Soldaten, die sonst nur wenig Zeit für Feierlichkeiten haben, nehmen in Form eines Feldgottesdienstes daran teil. Sie ehren die Kaiserin, singen ihren Lieblingschoral und beten. Später wird Musik gespielt, die auch die Feinde hören können. Der Tag endet mit deutschem Soldatengesang und der stillen Wache einer Schildwacht.
Das lyrische Ich, wahrscheinlich ein deutscher Soldat, scheint die Feierlichkeiten und das Soldatenleben gleichzeitig zu würdigen und zu bedauern. Einerseits wird die Härte des Kriegs und der Entbehrungen betont, andererseits wird das ehrenvolle Bild des kämpfenden Soldaten und der dienenden Kaiserin hochgehalten. Es könnte interpretiert werden, dass das lyrische Ich das Soldatentum als eine Schicksalsgemeinschaft sieh, die durch Kameradschaft, Pflichterfüllung und den Glauben an Gott und König gekennzeichnet ist.
Formal ist das Gedicht in vier Strophen unterteilt, wobei die Anzahl der Verse in den Strophen stark variiert. Der größte Teil des Gedichtes besteht aus vierhebigen Jamben, wobei es vereinzelt auch zu Abweichungen kommt. Die Sprache des Gedichts ist bildhaft und teilweise altertümlich, es kommen viele Metaphern zum Einsatz. Auf der einen Seite wird ein Kriegsschauplatz detailliert und realistisch beschrieben, auf der anderen Seite wird auch eine idealisierte, fast märchenhafte Darstellung von Heimat und Kriegsehre geschaffen.
Insgesamt ist das Gedicht ein Beispiel für die kriegsbejahende und gleichzeitig tragische Dichtung der Wilhelminischen Ära, in der Selbsthingabe, Ehre und Opferbereitschaft zentrale Themen waren. Der Autor lässt jedoch auch den Schrecken und die Härte des Kriegs nicht außer Acht, was das Gedicht zu einem interessanten Zeitzeugnis dieser Äpoche macht.
Weitere Informationen
Walter Flex ist der Autor des Gedichtes „Geburtstag der Kaiserin in Viéville“. Flex wurde im Jahr 1887 in Eisenach geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1903 und 1917. München ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne, Expressionismus oder Avantgarde / Dadaismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 112 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 679 Worte. Weitere Werke des Dichters Walter Flex sind „Der Ort, wo unsre Väter liegen“, „Durch die morgenroten Scheiben“ und „Im Schützengraben“. Zum Autor des Gedichtes „Geburtstag der Kaiserin in Viéville“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.
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