Die Mädchen von Colberg von Rudolf Lavant

Gen Jena zog der Preußen Macht
In siegesfrohen Schaaren ...
Zerstoben ist in einer Schlacht
Der Ruhm von sieben Jahren.
 
Auf Gras und Kraut lag blut’ger Thau,
Weithin verstreut die Waffen ...
In Schutt und Trümmer sank der Bau,
Den Geist und Kraft geschaffen.
 
Noch blieb ein Damm vor Feindesfluth –
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Die alten stolzen Vesten.
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Man wähnte sie in sichrer Hut
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Der Treuesten und Besten.
 
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Doch formte man aus schlechtem Teig
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Die Führer wackern Streitern;
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Sie öffneten verzagt und feig
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Das Thor vor wenig Reitern.
 
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Es trat das heiße Roth der Scham
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Nicht in der Greise Wangen;
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Sie gaben ohne Groll und Gram
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An Knaben sich gefangen.
 
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Aus Elb’ und Oder tränkten schon
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Die Franken ihre Pferde;
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Der Name „Preußen“ war ein Hohn
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Für jedes Volk der Erde.
 
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Der Stern von Roßbach, er verblich
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In einer Nacht von Schande;
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Nur da und dort ermannte sich
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Ein Held zum Widerstande.
 
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Wo Magdeburg, die starke, sich
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Ergab mit Wall und Thürmen,
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Da hielt sich Colberg ritterlich
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Und trotzte allen Stürmen.
 
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Da stellte sich zu Gneisenau
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Ein Mann mit derben Knochen;
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Der litt es nicht, daß feig und lau
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Ein Bürger sich verkrochen.
 
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Wie in den Raaen und auf Deck
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Er niemals Furcht empfunden,
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Hielt sich der alte Nettelbeck
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Auch in des Kampfes Stunden.
 
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Doch endlich kam die bleiche Noth –
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Da nützte kein Versprechen;
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Der Hunger wühlt, der Hunger droht
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Den Widerstand zu brechen.
 
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Selbst Nettelbeck ward ernst und still
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Und sorgenvoll die Miene,
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Da noch kein Schiff sich nahen will,
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Das füllt die Magazine.
 
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Doch als man schon zu murren wagt
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Und von Ergebung munkelt,
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Da naht ein Schiff, vom Feind gejagt ...
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Der Stern der Rettung funkelt!
 
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Der Nettelbeck erspäht’s vom Thurm
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Und fühlt die Brust sich schwellen,
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Doch draußen tost und tobt der Sturm
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Und will das Schiff zerschellen.
 
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Wagt sich kein Lootse kühn hinaus
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Ins Wogenmeer zur Rhede,
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So sinkt das Schiff mit Mann und Maus,
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So endet alle Fehde.
 
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Zum Hafen stürzt der Brave schon,
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Im Auge helle Flammen,
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Und ruft mit seinem Donnerton
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Die Lootsenschaar zusammen.
 
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Doch in den Adern stockt das Blut
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Bei dieses Sturmes Pfeifen,
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Und Keiner, Keiner hat den Muth,
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Das Ruder zu ergreifen.
 
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Er mahnt und bittet, flucht und droht,
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Der Lootsen Sinn zu wenden.
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Indessen steigt der Schiffer Noth,
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Die Schuß auf Schuß entsenden.
 
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Da flackert’s auf wie bittrer Hohn
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In seiner düstern Miene;
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Er ruft: „Geduld, ich komme schon!
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He, Dörte, Lene, Trine!
 
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„Die Hasenherzen sind voll Schreck –
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Sie können Muth nicht fassen;
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Sagt, wollt den alten Nettelbeck
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Auch ihr im Stiche lassen?“
 
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Er springt ins Boot, die Dirnen nach –
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Sie kennen kein Erblassen;
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Man sieht sie zu der Lootsen Schmach
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Stramm nach den Rudern fassen.
 
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Mit blauen Augen, frisch und klar,
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Fünf wetterfeste Dirnen!
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Es legt das blonde krause Haar
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Sich in gebräunte Stirnen.
 
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Sie haben in den Knochen Mark,
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Im jungen Herzen Feuer,
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Und Nettelbeck hält kühl und stark,
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Entblößten Haupts das Steuer.
 
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Es kämpfen durch den Wogenschwall
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Sich bis zum Schiff die Braven
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Und Rettelbeck bei Glockenschall
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Führt’s sicher in den Hafen.
 
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Und tausend Hände bargen frisch
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Was unter Deck gebettet;
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Man hatte Brot nun auf dem Tisch
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Und – Colberg war gerettet.
 
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Wohl ist des Großen viel geschehn
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Danach im Vaterlande,
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Doch soll darum dies Bild bestehn
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Aus einer Zeit der Schande.
 
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Man mag der höchsten Ehre Zoll
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Dem Alten zuerkennen,
107 
Jedoch vor Weinsbergs Weibern soll
108 
Man Colbergs Mädchen nennen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.1 KB)

Details zum Gedicht „Die Mädchen von Colberg“

Anzahl Strophen
27
Anzahl Verse
108
Anzahl Wörter
562
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Mädchen von Colberg“ wurde von Rudolf Lavant verfasst. Der Autor wurde am 30. November 1844 geboren und verstarb am 6. Dezember 1915. Das Gedicht lässt sich zeitlich nicht eindeutig einordnen.

Beim ersten Lesen des Gedichts entsteht der Eindruck eines kriegerischen Geschehens und einer anschließenden Rettung. Die Stimmung ist von Anfang an angespannt und dramatisch.

Inhaltlich handelt das Gedicht von den Ereignissen um die Stadt Colberg während des Krieges. Die Stadt wird von den Preußen erobert und nach einer erfolglosen Verteidigung droht die Niederlage. Doch dann taucht ein Schiff auf, das von den Lootsen navigiert wird. Der erfahrene Seemann Nettelbeck übernimmt das Steuer und gemeinsam mit fünf tapferen Mädchen kämpfen sie sich durch den Sturm zur rettenden Rettungsflotte. Am Ende werden sie vor dem Hungertod bewahrt und Colberg ist gerettet.

Die Form des Gedichts besteht aus 27 Strophen, die jeweils vier Verse haben. Insgesamt enthält das Gedicht also 108 Verse. Der Sprachstil ist durchgängig gehoben und verwendet viele metaphorische und bildhafte Ausdrücke, um die Dramatik der Situation zu unterstreichen. Die Sprache wirkt kraftvoll und intensiv.

Das lyrische Ich möchte mit diesem Gedicht das heldenhafte Verhalten der Lootsen und der tapferen Frauen von Colberg in Erinnerung behalten. Es lobt die Mutigen und prangert die Feiglinge an, die sich verkrochen haben. Es wird klar, dass die Mädchen von Colberg einen starken Einfluss auf den Ausgang des Krieges hatten und deshalb in Ehren gehalten werden sollten.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Mädchen von Colberg“ ist Rudolf Lavant. Im Jahr 1844 wurde Lavant in Leipzig geboren. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. In Stuttgart ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 108 Versen mit insgesamt 27 Strophen und umfasst dabei 562 Worte. Weitere Werke des Dichters Rudolf Lavant sind „An die alte Raketenkiste“, „An unsere Feinde“ und „An unsere Gegner“. Zum Autor des Gedichtes „Die Mädchen von Colberg“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 96 Gedichte vor.

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