Der Stieglitz und der Sperling von Friedrich von Hagedorn

Der Schönen nach der Welt,
Die unser Lob erhält
Und, voller Dankbarkeit,
Uns holde Mäulchen leiht,
Die jeder, der recht liebt,
Ihr zehnfach wiedergibt;
Der weiht sich insgeheim
Ein jugendlicher Reim,
Den, ohne Neid und Groll,
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Kein Alter lesen soll.
 
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Du kennst den stillen Wald,
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Der Freuden Aufenthalt,
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Die Einsamkeit und Nacht
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Nur Kennern schöner macht.
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Dort, wo ich dir im Thal
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Die letzten Küsse stahl,
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Dort ahmet Laub und Bach
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Den Schmätzchen rauschend nach;
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Dort lockten Lieb' und Mai
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Die Vögel jüngst herbei.
 
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Man sagt, daß in der Schaar
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Ein junges Weibchen war,
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Ein Vogel deiner Art,
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Nett, schalkhaft, hüpfend, zart,
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Der kaum das Nest verließ,
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Die ersten Federn wies,
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Dem, der ihn artig fand,
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Nur spielend widerstand,
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Und dennoch meisterlich
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Der Leidenschaft entwich.
 
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Ein Stieglitz, dessen Tracht
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Die Vögel neidisch macht,
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Klagt seufzend seine Pein,
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Und hofft erhört zu sein.
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Ach! spricht er, lenkte sich
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Doch deine Huld auf mich;
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So würde meine Treu'
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Mit jedem Tage neu,
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Die deiner Artigkeit
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Mein Herz auf ewig weiht!
 
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Wenn meiner Töne Spiel
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Dir jemals wohlgefiel;
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Wenn vielen reizend klang,
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Was dein Verehrer sang:
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So soll der ganze Hain
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Hinfort ein Zeuge sein,
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Daß mir kein Lied entfällt,
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Das nicht dein Lob enthält.
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Der nahe Wiederhall
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Vermehr' es überall!
 
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Ein Sperling ruft ihm zu:
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Ich singe nicht wie du.
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Wer aber zweifelt dran,
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Daß ich gefallen kann?
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Die mir sich frei ergibt,
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Wird auch von mir geliebt,
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Und die geliebet ist,
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Wird oft von mir geküßt,
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Und die mein Kuß belehrt,
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Ist hundert Lieder werth.
 
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Wer glaubet, daß ein Kuß
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Viel Süßes wirken muß,
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Viel seltne Lust verspricht,
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Mich dünkt, der irret nicht.
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Das Weibchen sah allein
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Die große Wahrheit ein:
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Des Sängers Treu' und Kunst
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Erwirbt nicht ihre Gunst.
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Ein schneller Seitenblick
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Verräth des Sperlings Glück.
 
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Sie schwingt sich bald empor,
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Kömmt ihrem Spatz zuvor,
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Und fliegt mit frohem Sinn
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Zur hohlen Weide hin.
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Er nimmt sie in sein Nest,
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Und hält ein Liebesfest,
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Dem keine Freude fehlt,
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Weil die nur ihn erwählt,
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Die in der ganzen Schaar
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Die Allerschönste war.
 
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Der Adler herrscht und raubt,
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Das ist der Macht erlaubt;
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Der königliche Pfau
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Trägt seinen Schweif zur Schau;
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Der muntre Kranich wacht;
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Der Falk' siegt in der Schlacht;
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Die kleine Nachtigall
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Scherzt mit dem Wiederhall:
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Ein Sperling liebt, und küßt;
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Sagt, ob er glücklich ist?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.5 KB)

Details zum Gedicht „Der Stieglitz und der Sperling“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
386
Entstehungsjahr
1708 - 1754
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Friedrich von Hagedorn ist der Autor des Gedichtes „Der Stieglitz und der Sperling“. Der Autor Friedrich von Hagedorn wurde 1708 in Hamburg geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1724 bis 1754 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Aufklärung zuordnen. Bei dem Schriftsteller Hagedorn handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 386 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 90 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Die Gedichte „Die Nacht“, „Der Morgen“ und „Dauer der Scribenten“ sind weitere Werke des Autors Friedrich von Hagedorn. Zum Autor des Gedichtes „Der Stieglitz und der Sperling“ haben wir auf abi-pur.de weitere 252 Gedichte veröffentlicht.

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