Nekropolis von Isolde Kurz

Es steht eine Stadt im Flutenbraus,
Aus feuchter Tiefe gerufen,
Da spülen die Wasser um jedes Haus
Und küssen die marmornen Stufen;
Da stehen Paläste in Herrlichkeit,
Vergoldete Säulen und Mauern,
Doch über die Zinnen lagert sich breit
Zerstörung mit tödlichen Schauern.
 
Da rollt kein Wagen, kein Huf erdröhnt
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Und weckt den Entschlummerten Löwen,
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Nur leise vom Lido der Nachtwind stöhnt,
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Und seewärts kreischen die Möven;
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Der Mond versilbert die tote Flut,
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Drauf stille die Gondeln streichen,
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Und Tang vom Meere, der treibt und ruht
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Wie sturmverschlagene Leichen.
 
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O Perle, wie keine das Meer gebar,
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Du schaumentstiegene Schöne,
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Wo sind deine Töchter mit goldenem Haar?
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Wo sind deine fürstlichen Söhne?
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Wo ist deines Goldes verschwendrische Pracht,
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Mit dem du der Erde geboten?
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Wo ist deiner Künste gesellige Macht?
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Wo ist dein Reich? Bei den Toten.
 
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Nur nächtlich den großen Kanal entlang,
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Den irrende Lichter streifen,
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Da klingt's wie Flüstern und Liebesgesang
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Von Schatten, die einsam schweifen.
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Und auf der nahen Piazza schwirrt
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Ein fröhliches Makengewimmel,
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Die waffenstarrende Riva klirrt,
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Und Masten verdunkeln den Himmel.
 
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Mir ist es, als sei aus Flut und Nacht
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Das alte Venedig gestiegen.
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Der Seewind regt sich, die Welle erwacht,
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Es steigt das Meer, und vom Bett des Kanals
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Andrängt sich's mit gierigen Armen,
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Als soll an den Küssen des Jugendgemahls
39 
Die tote Schöne erwarmen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Nekropolis“

Autor
Isolde Kurz
Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
39
Anzahl Wörter
219
Entstehungsjahr
1853 - 1944
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

„Nekropolis“ ist ein Gedicht der deutschen Schriftstellerin Isolde Kurz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts tätig war.

Das Gedicht vermittelt beim ersten Eindruck eine melancholische und düstere Atmosphäre und handelt von einer Stadt in der ehemaligen oder derzeitigen Pracht, die nun vom Verfall bedroht ist. Die literarische Gestalt, das lyrische Ich, beschreibt eindringlich und zugleich lamentierend die Stadt und ihren Zustand.

Die zentralen Themen des Gedichts sind Vergänglichkeit, Tod und Verfall, verkörpert durch die Stadt, die einmal prächtig und mächtig war, nun aber nur noch als Ruine ihrer einstigen Pracht existiert. Der Gedichttitel „Nekropolis“ (griechisch für „Totenstadt“) verweist auf diese Thematik. Die Stadt wird als Leiche betrachtet, die an die Oberfläche einer trüben Tiefe gestiegen ist, was ebenfalls zur morbiden Stimmung beiträgt. Die fehlende Aktivität in der Stadt und die Anwesenheit des Meeres, das die Stadt zu ertrinken droht, verstärken das Gefühl der Vergänglichkeit und Melancholie.

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen, die jeweils sieben bis acht Verse enthalten. Die Sprache ist bildhaft und metaphorisch, was der Düsternis und Tragik der Situation zusätzlichen Ausdruck verleiht. Die Metaphern und Vergleiche, wie „zerstörung mit tödlichen Schauern“, „Perle, wie keine das Meer gebar“, „Lichter streifen“ und „tote Schöne“, tragen zum Verständnis der tragischen Vergangenheit und Gegenwart der Stadt bei.

Isolde Kurz verwendet außerdem bildreiche und sinnliche Sprache, die sowohl die Atmosphäre der Stadt als auch die Gefühle des lyrischen Ichs vermittelt. Sie macht intensiven Gebrauch von auditiven und visuellen Bildern, wie dem „Flutenbraus“, dem „rollenden Wagen“, den „goldenen Säulen und Mauern“ und dem „küssenden Wasser“, was die Szenerie noch eindringlicher macht.

Fazit: „Nekropolis“ von Isolde Kurz ist ein sozialkritisches und melancholisches Gedicht, das die Vergänglichkeit, das Sterben und den Verfall einer einst glanzvollen Stadt zeigt und dabei eine düstere und gleichzeitig faszinierende Atmosphäre erzeugt.

Weitere Informationen

Isolde Kurz ist die Autorin des Gedichtes „Nekropolis“. Die Autorin Isolde Kurz wurde 1853 in Stuttgart geboren. In der Zeit von 1869 bis 1944 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus, Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 219 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 39 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Die Gedichte „Die Nicht-Gewesenen“, „Mädchenliebe“ und „Die erste Nacht“ sind weitere Werke der Autorin Isolde Kurz. Zur Autorin des Gedichtes „Nekropolis“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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