Das welke Blatt von Otto Erich Hartleben

In ihren Locken haftete ein welkes Blatt,
Als ich mit ihr den alten Berg herniederstieg
Zum letztenmal. Verstohlne Freude war es mir,
Das braune Blatt im wirren braunen Haar zu sehn,
Den stillen Zeugen stillgenoßner, heiliger Lust,
Und heimlich, glücklich lächelnd schritt ich neben ihr,
Indes ein schwellend Säuseln durch die Kronen ging.
 
Und eh' wir noch das erste Haus der Stadt erreicht,
Stahl ich ihr sacht das braune Blatt vom stolzen Haupt.
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Und da ich nun nach ihren lieben Augen sah,
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Die ehrsam schon und sittig wieder schauten drein,
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Hob fragend sie den Blick empor: was nahmst du da?
 
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Ich zeigt' es schweigend. - Eine dunkle Welle Bluts
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Floß über ihr schamhaftes Antlitz. Aber dann
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Schien plötzlich sie der heißen Wünsche eingedenk
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Ein jäher Blitz hingebungsschwüler, starker Glut
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Traf mich, es zitterten die offenen Lippen ihr,
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Und überwältigt bebte mir das bange Herz!
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Ich faßte zuckend ihre Hand und preßte sie
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An meinen Mund und küßte sie zum letztenmal,
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Indes ein schwellend Säuseln durch die Kronen ging.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Das welke Blatt“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
21
Anzahl Wörter
168
Entstehungsjahr
1864 - 1905
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts „Das welke Blatt“ ist Otto Erich Hartleben. Hartleben war ein deutscher Dramatiker, Dichter und Übersetzer, der in der Zeit des Naturalismus lebte und wirkte. Das vorliegende Gedicht stammt daher vermutlich aus dem Ende des 19. Jahrhunderts oder dem Anfang des 20. Jahrhunderts.

Der erste Eindruck des Gedichts ist geprägt von einer melancholischen und sehnsüchtigen Stimmung. Das lyrische Ich erzählt von einem letzten gemeinsamen Spaziergang mit einer Frau, die aufgrund der intimen und liebevollen Bezüge vermutlich eine Liebesbeziehung zum lyrischen Ich hat oder hatte. Das welke Blatt in ihren Haaren dient hierbei als Metapher und Symbol für eine vergangene, welke Liebe.

In der ersten Strophe wird dieses Symbol eingeführt und die Szenerie gesetzt: Der Abstieg vom Berg, das welke Blatt in ihren Haaren und das heimliche Lächeln des lyrischen Ichs deutet auf eine heimliche, vielleicht verbotene Liebe hin. In der zweiten Strophe nimmt das lyrische Ich das Blatt aus ihren Haaren, was sie verwirrt, aber sie reagiert verständnisvoll und scheint die Botschaft zu verstehen: Die Liebe ist vorüber. Die letzte Strophe ist geprägt von intensiven Gefühlen, als das lyrische Ich ihre Hand küsst und sich verabschiedet.

Die Sprache und der Aufbau des Gedichts sind typisch für die naturalistische Ära, in der Hartleben lebte: Der Detailreichtum und die präzise Beschreibung der Landschaft und der Gefühle der Protagonisten spiegeln die realistische Herangehensweise der Naturalisten wider. Gleichzeitig ist die Sprache geprägt von einer romantischen und sehr emotionalen Melancholie, die das Gedicht atmosphärisch dicht machen. Die Wiederholung der Phrase „Indes ein schwellend Säuseln durch die Kronen ging“ am Ende der ersten und letzten Strophe gibt dem Gedicht einen Rahmen und betont die immer währende, unveränderliche Natur als Kontrast zur vergänglichen menschlichen Liebe.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Das welke Blatt“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Otto Erich Hartleben. Im Jahr 1864 wurde Hartleben in Clausthal (Clausthal-Zellerfeld) geboren. In der Zeit von 1880 bis 1905 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 168 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 21 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Die Gedichte „Das war der Duft“, „Kinderköpfchen“ und „Elegie“ sind weitere Werke des Autors Otto Erich Hartleben. Zum Autor des Gedichtes „Das welke Blatt“ haben wir auf abi-pur.de weitere 22 Gedichte veröffentlicht.

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