Die Leidenschaftlichen von Franz Werfel

Mein Gott, es werden sein zu deiner Rechten
Nicht die Wahrhaftigen allein und die Gerechten!
Nein alle, die in dreizehn Dezembernächten
Vor einem Fenster standen. Und Frauen, die sich rächten
Mit Vitriol und dann im Gerichtssaal ergrauten,
Die Eifersüchtigen all, die ihr Blut stauten,
In Droschken weinten, in Sälen sich erfrechten!
Die durchgefallnen tiefen Atmer,
Sänger, die mit bezechten
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Gliedern dem Tod sich in die Grube schmissen,
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Sie werden sein zu dir emporgerissen,
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Und werden sitzen Gott, zu deiner Rechten!
 
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Es werden wandeln in deinen Gärten
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Nicht nur die Demütigen und Beschwerten,
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Nein alle, die leuchteten und verehrten!
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Mädchen, die in Konzerten erkrankten,
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Weil ihre Wangen zu bleich sich verklärten,
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Blicke aus Augen, die dankten
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Wahre Augen-Blicke zu nimmer verzehrten
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Dauern aus Zeit in deine Zeiten gehoben,
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Werden sie lodern weiter und loben,
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Leichte Feuer wandelnd in deinen Gärten!
 
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Es werden ruhen, Gott, in deinen Tiefen
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Nicht die allein, die deinen Namen riefen,
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Nein alle, die in den Nächten nicht schliefen!
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Die am Morgen ihr Herz mit beiden Händen häuften
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Wie Flamme, und liefen
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Tiefatmend, blind, in unbekannten Läuften.
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Ein Küsten-Wind zuckt in Selbstmörderbriefen.
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Die Knaben haben Meere nicht verstanden,
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So brannten sie sich ab in Hieroglyphen.
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Nun knarrt ein Rost-Schild an den schiefen
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Eisernen Kreuzen der Konfirmanden.
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Wie sehr wir hier sind, sind wir dort vorhanden
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Die hier unruheten aus deinen Tiefen,
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Sie werden ruhen dort in deinen Tiefen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Die Leidenschaftlichen“

Autor
Franz Werfel
Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
230
Entstehungsjahr
1890 - 1945
Epoche
Expressionismus,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Leidenschaftlichen“ wurde vom österreichischen Schriftsteller Franz Werfel verfasst, der von 1890 bis 1945 lebte. Es entstammt dem literarischen Umfeld der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, die durch starke gesellschaftliche und politische Verwerfungen geprägt war.

Bereits beim ersten Lesen wird klar, dass es sich um ein sehr persönliches und emotionales Gedicht handelt. Werfel scheint eine Vielzahl von charakteristischen individuellen Schicksalen und Leidenschaften zu beschreiben und deren Wert für das Göttliche zu thematisieren. Auch wird eine emotional aufgeladene und zum Teil düstere Atmosphäre vermittelt.

Inhaltlich wird in „Die Leidenschaftlichen“ eine Vielzahl verschiedener Menschen und ihre teils extremen emotionalen Zustände dargestellt: Von den Gerechten und Wahrhaften, über Frauen, die sich mit Vitriol rächen, Künstlern, die sich dem Tod hingeben, bis hin zu Mädchen, die in Konzerten erkranken und Menschen, die ihre Nächte schlaflos verbringen. Sie alle werden von Werfel zu Gott erhoben, sie dürfen seine Gärten durchwandeln und in seinen „Tiefen“ ruhen.

Es drängt sich die Interpretation auf, dass Werfel in seinem Gedicht die Intensität des emotionalen Erlebens und die leidenschaftliche Hingabe – unabhängig von ihrer konkreten Ausformung – als etwas Wesentliches und Heiliges beschreibt. Sie alle, die Leidenschaftlichen, entsprechen dem Bild des Menschen, das Werfel gegenüber Gott repräsentieren möchte – voller Leben, Leidenschaft und Authentizität.

Formal besteht das Gedicht aus drei Strophen mit unterschiedlich vielen Versen (12, 10, 14). Es gibt keinen formalen Reim, was die individuelle und unvorhersehbare Natur der menschlichen Emotionen und Schicksale unterstreichen könnte. Die Sprache Werfels ist dabei sehr malerisch, intensiv und zum Teil brutal. Einige Wendungen wie „Mädchen, die in Konzerten erkrankten“ oder „Die Knaben haben Meere nicht verstanden, / So brannten sie sich ab in Hieroglyphen“ sind dabei besonders anschaulich und regen zu verschiedenen Interpretationen an.

Insgesamt kann „Die Leidenschaftlichen“ als leidenschaftliches Plädoyer für die Tiefe und Vielfalt menschlicher Erfahrungen gelesen werden. Franz Werfel stellt die leidenschaftlich Lebenden, Liebenden und Leidenden in den Mittelpunkt und erhebt ihre Erfahrungen in einen göttlichen Kontext. Dabei beeindruckt das Gedicht durch seine bildstarke Sprache und seine kraftvolle emotionale Ausdruckskraft.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Leidenschaftlichen“ ist Franz Werfel. 1890 wurde Werfel in Prag / Österreich-Ungarn geboren. In der Zeit von 1906 bis 1945 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Expressionismus oder Exilliteratur zugeordnet werden. Werfel ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht in der Fremde suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk im Heimatland bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist religiöse oder politische Gründe den Ausschlag. Die deutsche Exilliteratur entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten zum Beispiel die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten in den Jahren 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus erkennen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 230 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Franz Werfel sind „Ein Lebens-Lied“, „Welche Lust auf Erden denn ist süßer“ und „Verzweiflung“. Zum Autor des Gedichtes „Die Leidenschaftlichen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 22 Gedichte veröffentlicht.

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