Sei mitleidsvoll von Wilhelm Jordan

Sei mitleidsvoll, o Mensch! Zerdrücke
Dem Käfer nicht die goldne Brust
Und gönne selbst der kleinen Mücke
Den Sonnentanz, die kurze Lust.
Ein langes mütterliches Bilden
Hat rührend in der Larve Nacht
Gerieft an diesen Flügelschilden
Den Schmelz von grün metallner Pracht.
Er muß nach einem Sommer sterben,
10 
Wo du dich siebzig Jahre sonn'st;
11 
O laß ihn laufen, fliegen, werben,
12 
Er sei so prachtvoll nicht umsonst.
13 
Ein Wasserwürmchen lag im Moore,
14 
Vom Himmel träumend, fußlos, blind;
15 
Da wächst ihm Fuß und Aug'; am Rohre
16 
Ersteigt es Lüfte warm und lind.
17 
Von Sommerglut getrocknet springen
18 
Die Gliederschalen; blaue Höhn
19 
Erstrebt's auf zart gewobnen Schwingen
20 
Und summt: Wie schön, wie wunderschön!
21 
Nun ist's in seinen Himmelreichen;
22 
Sein höchstes Glück - ein Tag umspannt's.
23 
So gönn' ihm nun mit seinesgleichen
24 
Den Elfenchor im Abendglanz.
25 
Sei mitleidsvoll! Was wir erfuhren,
26 
Das schläft im Stein, das webt im Baum,
27 
Das zuckt in allen Kreaturen
28 
Als Dämmerlicht, als Fragetraum.
29 
Sei mitleidsvoll! Du bist gewesen
30 
Was todesbang vor dir entrinnt.
31 
Sei mitleidsvoll! Du wirst verwesen
32 
Und wieder werden, was sie sind.
33 
Sei mitleidsvoll, o Mensch! Zerdrücke
34 
Dem Käfer nicht die goldne Brust
35 
Und gönne selbst der kleinen Mücke
36 
Den Sonnentanz, die kurze Lust!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Sei mitleidsvoll“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
196
Entstehungsjahr
1819 - 1904
Epoche
Romantik,
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sei mitleidsvoll“ wurde vom deutschen Autor Wilhelm Jordan verfasst, der von 1819 bis 1904 lebte. Somit kann das Werk zeitlich der Epoche des späten Realismus und der beginnenden Moderne zugeordnet werden.

Beim ersten Lesen fällt das wiederholte Plädoyer für Mitgefühl und Rücksichtnahme auf andere Lebensformen auf. Das lyrische Ich spricht direkt den Leser als „Mensch“ an und fordert zu achtsamen Umgang mit dem Leben auf.

In einfacheren Worten beschreibt das Gedicht, wie der Mensch andere Lebewesen, exemplarisch durch einen Käfer und eine Mücke dargestellt, respektieren und ihr kurzes und freudiges Leben nicht zerstören sollte. Es wird darauf hingewiesen, dass diese kleinen Geschöpfe auch Gefühle haben und sie mit ihrer kurzen Lebensspanne die gleichen Freuden wie wir Menschen erleben. Jordan mahnt uns, dass wir ebenfalls sterblich sind und dass alles Leben im ewigen Kreislauf von Leben und Tod steht. Somit setzt das lyrische Ich mit diesen Aussagen ein nachdrückliches Plädoyer für Mitgefühl und Respekt gegenüber der gesamten Schöpfung.

Die Form des Gedichts ist geprägt durch eine konsequente vierhebige Jambusform, die durch ihre Regelmäßigkeit und Harmonie eine besondere eindringliche und mahnende Wirkung erzielt. Die Sprache ist klar und von bildhafter Metaphorik geprägt, die das Gleichnis vom werbenden Käfer und der sonnentanzenden Mücke sehr plastisch werden lässt. Außerdem sind Parallelen zur Naturalistenlyrik zu ziehen, da das Leben des Käfers und der Mücke sehr detailliert und nahezu wissenschaftlich genau beschrieben wird.

Zusammenfassend unterstreicht „Sei mitleidsvoll“ Wilhelm Jordans Forderung nach Mitgefühl und Toleranz gegenüber allen Lebewesen - eine Botschaft, die bis heute an Bedeutung nicht verloren hat. In dieser Hinsicht zeigt das Gedicht die fortwährende Relevanz der poetischen Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und dem Verhältnis Mensch-Natur.

Weitere Informationen

Wilhelm Jordan ist der Autor des Gedichtes „Sei mitleidsvoll“. Im Jahr 1819 wurde Jordan in Insterburg in Ostpreußen geboren. Im Zeitraum zwischen 1835 und 1904 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das vorliegende Gedicht umfasst 196 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 36 Versen. Wilhelm Jordan ist auch der Autor für Gedichte wie „Lied“ und „Die welke Rose“. Zum Autor des Gedichtes „Sei mitleidsvoll“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Wilhelm Jordan (Infos zum Autor)