Die Psyche sehnt sich nach Jesu alleine von Angelus Silesius

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O, wo bist du mein Leben,
Dem ich mich ergeben,
Deß ich will ganz leibeigen sein?
Wo soll ich mich wenden,
Mein Suchen zu enden?
Wo soll ich dich finden,
Erleuchter der Blinden,
Und spüren deinen Glanz und Schein?
 
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Sag mir an, wo du weidest,
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Die Mittagbrunst leidest,
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Auf daß ich eilends zu dir geh,
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Daß ich mit dir weide,
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Mein einzige Freude,
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Daß ich dich umfasse
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Und nimmermehr lasse,
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In Lieb und Leid steif bei dir steh.
 
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Soll ich unter der Linden,
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Mein Herze, dich finden,
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Soll ich zum Apfelbaume gehn?
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Die Büsch und die Wälder,
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Die Wiesen und Felder
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Mit sehnlichem Schnaufen
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Durchsuchen, durchlaufen?
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Soll ich mich geben auf die Höhn?
 
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Sag mir, ob ich bei'n Flüssen
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Soll deiner genießen,
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Weil du der starke Liebstrom bist?
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Sag, ob wir bei'n Flammen
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Solln kommen zusammen,
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Daß du mich durchglühest,
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Mein Herze besiehest,
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Obs lauter in dich schmelzt und fließt.
 
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Nun ich will mich ausrüsten,
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Durchwandern die Wüsten
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Um dich, mein Turteltäubelein.
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Ich will mich bemühen,
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Sehr ferne zu ziehen,
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Kein Ungemach achten,
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Nur emsiglich trachten,
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Wie daß ich möge bei dir sein.
 
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Ja, ich will mich begeben,
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Dir nach zu streben,
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So lang ich Atem schöpfen kann.
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Durch Dornen und Hecken,
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Durch Stauden und Stecken,
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In Höhlen und Grüften,
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In Tälern und Klüften
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Will ich mir machen eine Bahn.
 
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O, begegne mir, Leben,
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Dem ich mich ergeben,
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Deß ich nunmehr ganz eigen bin!
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Ach, ach, ich verschmachte,
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Kein Labsal mehr achte,
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Bis daß ich dich habe,
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Du himmlischer Knabe,
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Wo nicht, so nimm mein Leben hin.
 
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O, du bist ja bei'n Schafen
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Nicht etwan entschlafen
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Und liegst in süßer Rast und Ruh.
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O soll mirs gelingen,
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Dich da zu umringen,
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So will ich wohl wissen,
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Inbrünstig zu küssen
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Den Mund, dem ich jetzt rufe zu.
 
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Wart, ich will auf die Höhen
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Des Myrrhenbergs gehen,
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Daß ich dich, Myrrhenbüschlein, find.
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Und wenn ich dich funden,
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Verwundt und gebunden,
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So will ich dich legen,
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Um deiner zu pflegen,
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Wo meine beiden Brüste sind.
 
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Oder liegst du im Grabe,
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Weil ich noch nicht habe
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Ein einzigs Wort gehört von dir?
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Oder bist in der Krippen,
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So rühre die Lippen,
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Des Schalls mich gewähre,
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Den ich so begehre,
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O Jesu mein, gezweig es mir.
 
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Ach mir Armen, Elenden,
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An aller Welt Enden
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Hab ich gesucht und find dich nicht!
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Doch will ich zugehen
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Auch noch nicht abstehen,
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Jerusalem sehen,
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Da wirds wohl geschehen,
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Daß ich erblick dein Angesicht.
 
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Ich will sprechen: Jungfrauen,
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Sagt mir im Vertrauen,
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Wo mein Geliebter sich aufhält?
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Sagt mir doch geschwinde,
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Wo ich ihn nun finde?
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So werden sie eben
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Die Antwort mir geben:
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Auf Zion hat er sein Gezelt.
 
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Alsdann will ich, mein Leben,
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Dich hurtig umgeben
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Und in meins Herzens Kammer führn.
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Da will ich dich küssen
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Und deiner genießen,
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In seligen Freuden
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Mich laben und weiden,
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Bis du mich krönen wirst und ziern.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.7 KB)

Details zum Gedicht „Die Psyche sehnt sich nach Jesu alleine“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
117
Anzahl Wörter
477
Entstehungsjahr
1624 - 1677
Epoche
Barock

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht ist verfasst von dem barocken Dichter Angelus Silesius, getauft am 25. Dezember 1624 und gestorben am 9. Juli 1677.

Auf den ersten Blick erweckt das Gedicht den Eindruck einer intensiven, spirituellen Suche. Die Verse interpretiere ich in dem Sinne, dass das lyrische Ich sich auf sehnlicher Suche nach Jesus befindet, nach göttlicher Liebe und Erleuchtung sehnt. Es wird deutlich, dass das lyrische Ich bereit ist, viel auf sich zu nehmen, um diese Verbindung zu Jesus zu finden und zu bewahren.

Das lyrische Ich scheint einen Ort zu suchen, an dem es sich mit dem Geliebten vereinen kann. Dieser Ort wird metaphorisch beschrieben - in der Natur, bei den Flüssen, auf den Höhen und selbst im Grab. Der Autor spielt dabei mit biblischen Motiven, z.B. der Apfelbaum als Symbol der Sünde oder die Wüste als Ort der Probe und Erkenntnis. Die leidenschaftliche Suche zeigt die große persönliche Bedeutung der Verbindung sucht, die das lyrische Ich mit Jesus herstellen möchte.

Dabei bleibt das Gedicht in seiner Form klassisch und unterliegt strengen metrischen und rhythmischen Regeln. Die einzelnen Strophen bestehen jeweils aus acht Versen und die Reime folgen klar definierten Mustern. Der Sprachgebrauch von Silesius ist dabei stark an die biblische Sprache angelehnt mit vielen Antithesen und Hyperbeln, um die Intensität der Gefühle hervorzuheben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht eine intensive, fast mystische spirituelle Suche beschreibt und dabei auf klassische biblische Symbole zurückgreift. Es zeigt das tiefe Verlangen, mit Gott in Verbindung zu treten und in dieser Verbindung Trost, Verständnis und ultimative Liebe zu finden. Dabei spiegelt das strenge formale Korsett des Gedichts die innere Disziplin wider, die das lyrische Ich auf seiner Suche aufbringt.

Weitere Informationen

Angelus Silesius ist der Autor des Gedichtes „Die Psyche sehnt sich nach Jesu alleine“. Geboren wurde Silesius im Jahr 1624 in Breslau. Im Zeitraum zwischen 1640 und 1677 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Barock zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Silesius handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Als Barockliteratur wird in der deutschen Geschichte der Literatur seit etwa 1800 die literarische Produktion in Europa im Zeitraum zwischen etwa 1600 und 1720 bezeichnet. Der Begriff „Barock“ stammt aus dem Portugiesischen und bedeutet so viel wie seltsam geformte, schiefrunde Perle. Während des Dreißigjährigen Krieges wurden große Teile Deutschlands zerstört. Die Menschen der damaligen Zeit, damals durch ein starkes soziales Gefälle zwischen Provinz und Hof geprägt, litten folglich unter den katastrophalen Auswirkungen des Krieges. Unzählige Menschen starben an den Folgen des Krieges und der Pest. Die Literaturepoche des Barocks wurde davon stark beeinflusst. Die Barockdichtung ist im Wesentlichen von drei Leitmotiven (Memento mori, Vanitas, Carpe diem) bestimmt, die die Einstellung der Menschen zum Leben beschreiben. Vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges war das Leben der Menschen von Gewalt und Zerstörung bestimmt. Alle genannten Motive setzen sich auf verschiedene Art mit der weitverbreiteten Angst vor dem Lebensende und dessen Auswirkungen auseinander. Die Dichter der Renaissance nutzten noch die lateinische Sprache, die Autoren des Barock begannen, ihre Werke in Deutsch zu veröffentlichen. Da innerhalb der Zeit des Barocks der Wohlklang und die äußere Ästhetik eines literarischen Werkes eine große Rolle spielten, war die bevorzugte Literaturform das Gedicht. In den Gedichten wurden häufig Symbole, Metaphern und Hyperbolik (Übertreibung) genutzt.

Das 477 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 117 Versen mit insgesamt 13 Strophen. Die Gedichte „Des Weisen Goldmachung“, „Vom Wissen“ und „Vom Gewissen“ sind weitere Werke des Autors Angelus Silesius. Zum Autor des Gedichtes „Die Psyche sehnt sich nach Jesu alleine“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1832 Gedichte veröffentlicht.

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