Sie betrachtet den gekreuzigten Jesum von Angelus Silesius

1	1
2	Schau, Braut, wie hängt dein Bräutigam
3	An eines harten Kreuzes Stamm!
4	Ist auch wohl ein Schmerz zu nennen,
5	Den man nicht an ihm kann kennen?
6	2
7	Schau doch, er hänget ganz entblößt,
8	Betrübt, geängstigt, ungetröst!
9	Voller Beulen, voller Wunden,
10	Ungepflegt und unverbunden.
11	3
12	Die Glieder alle sind zerdehnt,
13	Der Mund steht offen, lechzt und gähnt.
14	Und die Lippen, wie Korallen,
15	Sind verblaßt, beschmitzt mit Gallen.
16	4
17	Sein huldenreiches Angesicht
18	Kann man vor'm Blut erkennen nicht.
19	Seine Stirn ist ganz zerstochen
20	Und die Augen sind gebrochen.
21	5
22	Das Haupt ist grausamlich verhöhnt,
23	Mit einem Dornenkranz gekrönt.
24	Und der Haare tapfre Locken
25	Hängen voller Speichelflocken.
26	6
27	Die Händ und Füße sind durchbohrt,
28	Verrenkt, gelähmet und verkohrt.
29	Auch das Herz, o groß Betrüben!
30	Ist nicht unverwundet blieben.
31	7
32	Schau, Braut, so gehts dem grünen Reis!
33	So gehts dem fruchtbarn Paradeis!
34	Schau, wie wirds mit dir dann werden,
35	Dürres Holz, Staub, Asch und Erden.
36	8
37	Jedoch verzage nicht, er hat
38	Bezahlet deine Missetat.
39	Schau, er neigt sich, dich zu küssen,
40	Will dich um und bei sich wissen.
41	9
42	Geh, werde seinem Leiden gleich,
43	Erduld auch du mit ihm den Streich.
44	Denn es will sich nicht geziemen,
45	Daß die Braut sei ohne Striemen.
46	10
47	Ach, steig hinauf und stirb mit ihm,
48	Wie ein verliebter Seraphim.
49	Wer sein Leben will erwerben,
50	Muß mit ihm am Kreuze sterben.

Details zum Gedicht „Sie betrachtet den gekreuzigten Jesum“

Gedicht-Analyse

Der Autor dieses Gedichts ist Angelus Silesius, ein Barocklyriker des 17. Jahrhunderts, geboren und getauft am 25. Dezember 1624 in Breslau und gestorben am 9. Juli 1677. Angelus Silesius, dessen bürgerlicher Name Johannes Scheffler war, zählt zu den bedeutendsten Vertretern der Barockdichtung und ist bekannt für seine religiös-mystischen Werke.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht von Dramatik und Leid geprägt ist. Der Autor beschreibt ausführlich die Leidensweg Jesu am Kreuz. Des Weiteren stellt er Verbindungen her zur „Braut“, die er symbolisch für die Gläubigen verwendet.

Das lyrische Ich schildert im ersten Teil des Gedichts auf drastische Weise das Leiden und Sterben Jesu aus der Perspektive der „Braut“. Es werden detaillierte Beschreibungen der körperlichen Schäden Jesu geliefert, was eine starke Ausdruckskraft und ein hohes Maß an Emotionalität mit sich bringt. Im weiteren Verlauf appelliert das lyrische Ich an die „Braut“ – und damit auch an die Gläubigen –, sich mit Jesus zu identifizieren und sein Leiden zu teilen. In formuliert wird hier die christliche Glaubensaussage, dass man durch Teilen und Nachvollziehen des Leidens Jesu Erlösung erlangen kann.

Vom formalen Aspekt her besteht das Gedicht aus zehn vierzeiligen Strophen. Es handelt sich um einen Kreuzreim. Die Sprache ist recht dramatisch und bildhaft, kaum eine Metapher wird ausgelassen, um die Schmerzen Christi zu illustrieren. Aber auch hier zeigt sich die typische barocke Kontrastierung: Leid und Erlösung, Tod und ewiges Leben, Schmerz und Liebe.

Insgesamt kann man sagen, dass das Gedicht von Angelus Silesius durch seine starke Metaphorik und die drastischen Bilder einen intensiven Eindruck vom Leiden Jesu erzeugt und dadurch die Gläubigen zur Identifikation und geistigen Auseinandersetzung mit diesem Leiden aufruft. Trotz seiner düsteren und schmerzhaften Bildsprache entsteht so eine intensive Darstellung der christlichen Erlösungsbotschaft.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Sie betrachtet den gekreuzigten Jesum“ ist Angelus Silesius. 1624 wurde Silesius in Breslau geboren. Zwischen den Jahren 1640 und 1677 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Barock kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Silesius ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Epoche des Barocks erstreckt sich über den Zeitraum von 1600 bis 1720. Die Begrifflichkeit „Barock“ leitet sich vom portugiesischen Wort „barocco“ ab und bedeutet „schiefrunde, seltsam geformte Perle“. Mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) erlebte das Deutsche Reich einen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verfall. Etwa ein Drittel des deutschen Volkes verlor in der Zeit ihr Leben. Doch waren nicht etwa hohe Kriegsverluste dafür verantwortlich, sondern das Wüten der Pest in fast allen Städten des Deutschen Reiches. Besonders Krieg und Pest in der Literaturepoche des Barocks zeigen auch ein prägendes Merkmal auf: der Gegensatz. Auf der einen Seite Armut, Elend und Tod, auf der anderen Macht, Prunk und Glanz. So lebte die normale Bevölkerung in größtenteils bitterer Armut, während Adelige einen pompösen Lebensstil bevorzugten. In der vorausgegangenen Epoche der Renaissance waren noch viele Gedichte in lateinischer Sprache veröffentlicht worden. Mit dem Barock begann die Zeit der deutschsprachigen Literatur. Die meisten Autoren gehörten dem Gelehrtenstand an: Theologen, Akademiker, Adelige und Beamte. Berühmte Dichter des Barocks sind etwa Martin Opitz, Andreas Gryphius, Daniel Caspar von Lohenstein, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau oder Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.

Das Gedicht besteht aus 50 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 212 Worte. Weitere Werke des Dichters Angelus Silesius sind „Die Heiligen messen Gott“, „Die Weisheit ist ein Quell“ und „Das Vieh lebt nach den Sinnen“. Zum Autor des Gedichtes „Sie betrachtet den gekreuzigten Jesum“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1832 Gedichte veröffentlicht.

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