Sie erwägt seine Lieblichkeit an den Kreaturen von Angelus Silesius

1
Keine Schönheit hat die Welt,
Die mir nicht vor Augen stellt
Meinen schönsten Jesum Christ,
Der der Schönheit Ursprung ist.
 
2
Wenn die Morgenröt entsteht
Und die güldne Sonn aufgeht,
So erinner ich mich bald
10 
Seiner himmlischen Gestalt.
 
11 
3
12 
Ofte denk ich an sein Licht,
13 
Wenn der frühe Tag anbricht.
14 
Ach, was ist für Herrlichkeit
15 
In dem Licht der Ewigkeit.
 
16 
4
17 
Seh ich dann den Mondenschein
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Und des Himmels Äugelein,
19 
So gedenk ich, der dies macht,
20 
Hat viel tausend größre Pracht.
 
21 
5
22 
Schau ich in dem Frühling an
23 
Unsern bunten Wiesenplan,
24 
So bewegt es mich zu schrein:
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Ach, wie muß der Schöpfer sein!
 
26 
6
27 
Schöne gleißt der Gärten Ruhm,
28 
Die erhabne Lilienblum.
29 
Aber noch viel schöner ist
30 
Meine Lilie, Jesus Christ.
 
31 
7
32 
Wenn ich sehe, wie so schön
33 
Weiß und rot die Rosen stehn,
34 
So gedenk ich, weiß und rot
35 
Ist mein Bräutigam und Gott.
 
36 
8
37 
Ja, in allen Blümelein,
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Wie sie immer mögen sein,
39 
Wird gar hell und klar gespürt
40 
Dessen Schönheit, der sie ziert.
 
41 
9
42 
Wenn ich zu dem Quellbrunn geh
43 
Oder bei dem Bächlein steh,
44 
So versenkt sich stracks in ihn,
45 
Als den reinsten Quell, mein Sinn.
 
46 
10
47 
Meine Schäflein machen mich
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Oft erseufzen inniglich:
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Ach, wie mild ist Gottes Lamm,
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Meiner Seelen Bräutigam.
 
51 
11
52 
Nie wird Honig oder Most
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Oder Tau von mir gekost,
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Daß mein Herz nicht nach ihm schreit,
55 
Als der ersten Süßigkeit.
 
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12
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Lieblich singt die Nachtigall,
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Süße klingt der Flöten Schall.
59 
Aber über allen Ton
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Ist das Wort: Marien Sohn.
 
61 
13
62 
Anmut gibt es in der Luft,
63 
Wenn die Echo wieder ruft.
64 
Aber nichts ist überall
65 
Wie des Liebsten Widerschall.
 
66 
14
67 
Ei nun, Schönster, komm herfür,
68 
Komm und zeig dich selbsten mir.
69 
Laß mich sehn dein eigen Licht
70 
Und dein bloßes Angesicht.
 
71 
15
72 
O, daß deiner Gottheit Glanz
73 
Meinen Geist umgebe ganz!
74 
Und der Strahl der Herrlichkeit
75 
Mich verzückt aus Ort und Zeit!
 
76 
16
77 
Ach, mein Jesu, nimm doch hin,
78 
Was mir decket Geist und Sinn!
79 
Daß ich dich zu jeder Frist
80 
Sehe, wie du selber bist.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.1 KB)

Details zum Gedicht „Sie erwägt seine Lieblichkeit an den Kreaturen“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
320
Entstehungsjahr
1624 - 1677
Epoche
Barock

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sie erwägt seine Lieblichkeit an den Kreaturen“ wurde von dem schlesischen Dichter und Theologen Angelus Silesius verfasst, der im Barockzeitalter lebte (Geboren 1624, gestorben 1677).

Beim ersten Lesen des Gedichts wird klar, dass es eine tiefgreifende religiöse Botschaft enthält, in der Gott – bzw. Jesus Christus – in allem und jedem gesehen wird. Das lyrische Ich sieht die Schönheit und Herrlichkeit ihrer Gottesehrfurcht in allen Aspekten der Welt widergespiegelt – in der Morgenröte, in der Schönheit der Blumen, im Flüstern des Windes, in der Süsse des Honigs - und diese Schönheit erinnert sie an die noch grössere Schönheit Christi.

Das Gedicht hat eine klare und konsequente Struktur, bestehend aus 16 Strophen mit jeweils einheitlich vier Versen. Diese regelmäßige Struktur und der oft genutzte Endreim geben dem Gedicht einen rhythmischen Klang und eine prägnante Melodie. Das Gedicht benutzt einfache und verständliche Sprache, um seine Botschaft zu vermitteln, was es zugänglich für viele Leserinnen und Leser macht. Auch sind viele Bildsprachen und Metaphern eingebaut, die die Natur und deren Schönheit loben, um eine Verbindung zu Gott und dessen Göttlichkeit herzustellen.

Die Sprache des Gedichts ist reich an Metaphern und Symbolik und vermittelt eine tiefgreifende Spiritualiät. Die wiederkehrenden Themen der Schönheit und Majestät der Natur und ihre Verbindung zu Gott lassen darauf schließen, dass durch die Wahrnehmung und Schätzung der Schönheit in der Welt das lyrische Ich näher zu Gott kommt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Gedicht eine ehrfürchtige und bewegende Darstellung der Begegnung mit Gott durch die Natur ist. Es zeigt die Rolle, die die Natur in der spirituellen Erkenntnis und Wertschätzung des lyrischen Ichs spielt. Es offenbart sowie feiert die transzendente Schönheit und Lieblichkeit, die der Glaube an Gott in allen Aspekten des Lebens erkennen lässt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Sie erwägt seine Lieblichkeit an den Kreaturen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Angelus Silesius. 1624 wurde Silesius in Breslau geboren. Zwischen den Jahren 1640 und 1677 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Barock zuordnen. Der Schriftsteller Silesius ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Der die Jahre 1600 bis 1720 umfassende Zeitraum gilt als Epoche der Barockliteratur, die sich im deutschen Sprachraum während und nach dem Dreißigjährigen Krieg entfaltete. Der Dreißigjährige Krieg begann 1618 und endete im Jahr 1648. Als Epochenbezeichnung wird das aus dem Portugiesischen stammende Wort „Barock“ erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts genutzt. Das Zeitalter des Barocks wurde durch den Dreißigjährigen Krieg geprägt – Hunger, Seuchen (insbesondere die Pest), Vergewaltigung und Tod sorgten für großes Elend bei den Menschen in Europa. So schrumpfte die Bevölkerung in Deutschland von ca. 28 Millionen im Jahr 1615 auf 11 Millionen Menschen am Ende des Krieges im Jahr 1648. Die Dichter thematisierten die Gegensätze in fast allen Lebensbereichen. Das wird auch als Antithetik bezeichnet. Inhaltlich folgten die Dichter der Antithetik und stellten in ihren Werken Gegensätze in den Vordergrund – etwa Diesseits und Jenseits, Sein und Schein oder Blüte und Verfall. Im Zeitalter des Barocks löste die deutsche Sprache das Lateinische ab. Da in der Zeit des Barocks der Wohlklang und die äußere Ästhetik eines literarischen Werkes eine große Rolle spielten, war die bevorzugte Literaturform jener Zeit das Gedicht. In den Gedichten wurden sehr gerne Metaphern, Symbole und Hyperbolik (Übertreibung) eingesetzt.

Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 16 Strophen und umfasst dabei 320 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Angelus Silesius sind „Das Vieh lebt nach den Sinnen“, „Die Gliedmaßen der Seelen“ und „Du mußt geübt werden“. Zum Autor des Gedichtes „Sie erwägt seine Lieblichkeit an den Kreaturen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1832 Gedichte veröffentlicht.

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