Sie beweint die gekreuzigte Liebe von Angelus Silesius

1
Kommt her und schauet an mein Leben,
Das unbefleckte Jungfraunkind!
Schaut, wie es ist ans Kreuz gegeben
Für unsre Schuld und unsre Sünd!
Es ist so übel zugericht,
Daß mir das Herze bricht!
 
2
Schaut, wie man hat den zarten Knaben
10 
So gar zerschmissen und verwundt!
11 
Wie man ihm Händ und Füß durchgraben,
12 
Wie man belohnt den hulden Mund!
13 
Wie ist die ewge Freundlichkeit
14 
Beworfen und bespeit.
 
15 
3
16 
Der Leib ist voller Beuln und Schrunden,
17 
Voll Angst und Schmerzen ist sein Geist.
18 
Das Fleisch und Mark ist alls verschwunden,
19 
Das Blut vergossen allermeist.
20 
Wie muß das lieblich Äugelein
21 
Ein solcher Scheusal sein?
 
22 
4
23 
Er hat vom Himmel auf die Erden
24 
Aus lauter Liebe sich gesenkt,
25 
Daß wir erledigt sollen werden
26 
Von allem Übel, das uns kränkt.
27 
Und sieh, er stecket selbst in Not,
28 
Der treue Liebesgott!
 
29 
5
30 
Wer ist nun, der ihm bei kann springen,
31 
Wer will ihm seine Treu bezahln?
32 
Wer Öle seinen Wunden bringen,
33 
Wer stillet seine Pein und Qualn?
34 
Wer ist, der das geplagte Kind,
35 
Ach, ach, vom Kreuz gewinnt?
 
36 
6
37 
Soll denn die Lieb am Kreuze sterben?
38 
Soll denn die Unschuld länger stehn?
39 
Soll denn das Heil der Welt verderben
40 
Und unser Leben untergehn?
41 
Ach ja, es weicht schon Geist und Sinn!
42 
Ach ja, die Lieb ist hin.
 
43 
7
44 
Die Lieb ist hin, o arme Seele,
45 
Die Lieb ist tot, lauf doch hinzu!
46 
Eröffne deines Herzens Höhle
47 
Und gib sie ihm noch jetzt zur Ruh.
48 
Steig auf das Kreuz, nimm ihn herab
49 
Und sei der Liebe Grab.
 
50 
8
51 
Du bist die Schuld, daß er gestorben,
52 
Du bist die Ursach seiner Pein.
53 
Weil er um deine Lieb geworben,
54 
Hat er des Todes müssen sein.
55 
Dies Lämmlein ist für dich geschlacht,
56 
Für dich in Tod gebracht!
 
57 
9
58 
Entzieht euch mir, ihr meine Sinnen,
59 
Ihr Augen schließt euch beide zu.
60 
Mein Geist begebe sich von hinnen,
61 
Mein Leben, das ersterb auch nu.
62 
Ich kann vor Leid nicht mehr bestehn,
63 
Ich muß mit ihm vergehn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28 KB)

Details zum Gedicht „Sie beweint die gekreuzigte Liebe“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
63
Anzahl Wörter
317
Entstehungsjahr
1624 - 1677
Epoche
Barock

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sie beweint die gekreuzigte Liebe“ ist von Angelus Silesius, einem Lyriker der Barockzeit, die von etwa 1575 bis 1740 andauerte. Silesius' Lebenszeit (1624-1677) fällt also mitten in diese Epoche.

Beim ersten Eindruck lässt sich feststellen, dass das Gedicht stark christlich-religiös geprägt ist. Es handelt von der Passion Christi, also seinem Leiden und seiner Kreuzigung. Es sind klare Bezüge zu biblischen Darstellungen und Theologien zu erkennen, etwa die Jungfrau Maria, der Hinweis auf Jesus als „Jungfraunkind“, der „treue Liebesgott“ (Jesus), der aus Liebe zur Menschheit den Tod auf sich nimmt.

Inhaltlich ergibt sich aus allen Strophen zusammengenommen das Bild einer tieftraurigen, verzweifelten und schuldigen lyrischen Ich, wahrscheinlich eine weibliche Figur, die das Leiden Christi mitanhört und -leidet. Sie bittet die Leser, sich das Leid anzuschauen (Strophe 1 und 2) und schildert in drastischen Bildern das Ausmaß des Leidens (Strophe 3). Sie weist auf das Opfer hin, das aus Liebe erbracht wurde (Strophe 4 und 5), sie beklagt den Verlust der Liebe und fordert auf, zur Hilfe zu kommen (Strophe 6 und 7). Sie macht sich selbst für den Tod Christi verantwortlich und sieht ihn als Opfer für die eigenen Sünden an (Strophe 8). Schließlich wünscht sie sich selbst den Tod, um bei Christus zu sein (Strophe 9).

Die Form des Gedichts ist stringent, mit jeweils sechs Versen pro Strophe. Das Reimschema ist durchgängig ABABCC. Die Sprache ist stark bildhaft und emotional, mit vielen pathetischen Elementen - typisch für die Barockzeit. Es tauchen immer wieder direkte Anreden an die Leser auf („Kommt her und schauet“, „Wer ist nun“, „Ach ja“), was eine unmittelbare, intensive Wirkung erzeugt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gedicht eine spirituelle Auseinandersetzung mit dem Leiden Christi und der eigenen Schuld darstellt. Es zeigt, wie das lyrische Ich sich in die Passionsgeschichte einfügt und sich darin versteht. Es ist typisch für die Barockdichtung, die gekennzeichnet ist durch Themen wie Liebe, Tod, Leid, Sinn des Lebens und Gottvertrauen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Sie beweint die gekreuzigte Liebe“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Angelus Silesius. Geboren wurde Silesius im Jahr 1624 in Breslau. Das Gedicht ist in der Zeit von 1640 bis 1677 entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Barock zu. Bei Silesius handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Der die Jahre 1600 bis 1720 umfassende Zeitraum gilt als Literaturepoche des Barocks, die sich in Deutschland während und nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) entfaltete. Als Bezeichnung der Epoche wird das aus dem Portugiesischen stammende Wort „Barock“ erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts genutzt. Die Bevölkerung Europas entwickelte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg in verschiedene Richtungen. Der Krieg stellte ein prägendes Ereignis der damaligen Zeit dar. Aber auch die Pest übte einen großen Einfluss auf die Verhältnisse der damaligen Zeit aus. Die Literatur des Barocks ist stark beeinflusst von der Antithetik. Das bedeutet, die Menschen nahmen ihre Welt als widersprüchlich und gegensätzlich war. Das Leben der einfachen Bevölkerung war von Krieg, Krankheit und Armut geprägt. Bei den Adeligen herrschten jedoch Luxus und Verschwendung. In der vorhergehenden Epoche (Renaissance) waren noch viele Dichtungen auf Lateinisch veröffentlicht worden. Mit dem Barock begann die Zeit der deutschsprachigen Literatur. Im Barock war der überwiegende Teil der Literatur Gelegenheitsdichtung. Man schrieb zur gehobenen Unterhaltung oder bei Hofe zur Huldigung der Fürsten. Für wohlhabende Bevölkerungsschichten schrieben Lyriker für Taufen, Beerdigungen oder Hochzeiten. Die Lyrik des Barocks wird deswegen auch als Gesellschaftsdichtung bezeichnet.

Das Gedicht besteht aus 63 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 317 Worte. Die Gedichte „Vom Wissen“, „Vom Gewissen“ und „Der Allerverliebteste, der Allerheiligste“ sind weitere Werke des Autors Angelus Silesius. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Sie beweint die gekreuzigte Liebe“ weitere 1832 Gedichte vor.

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