Die griechische Tonkunst von Karl Heinrich Heydenreich

Wer hebt auf des Entzückens Schwingen
So mächtig zum Olympus mich empor?
Hör’ ich nicht ferne Harmonien klingen?
Wie wird mir? – Nie gehörte Töne dringen
Von jenen Höhen her in mein erstauntes Ohr.
 
Ich seh den Aether sich erhellen;
Die Schöpfung schwimmt in neuem Purpurlicht.
Ein Jubel steigt, und tausend Stimmen schwellen
Die weite Luft, gedrängt in hohe Wellen:
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Wie auf dem Ocean sich Wog’ an Woge bricht.
 
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Schon ziehn herauf der Sänger Heere,
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Hoch wirbelnd, wie der volle Strom sich hebt,
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Und immer höher rauschen ihre Chöre:
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Horch! Sie erheben einer Gottheit Ehre –
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Wer ist sie, die dort hoch am Horizonte schwebt?
 
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Sie ists, die Tonkunst! – Im Geleite
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Des ganzen Hämus prangt sie königlich.
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Sie ist’s – und um sie her jauchzt Himmelsfreude.
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Sie schaut voll Huld herab aus ferner Weite;
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Von reinem Götterglanz umflossen, naht sie sich.
 
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Hernieder steigt sie zu der Erde.
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Die Lüfte schweigen, rings ist Alles stumm.
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Mit majestätisch lächelnder Geberde
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Steht sie nun da! Sie spricht ein zweytes Werde! –
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Und sieh! Es blühet hier schon ein Elysium.
 
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Sie ruft aus Wäldern Gäa’s Söhne ,
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Schmelzt ihren rohen Trieb zum Mitgefühl,
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Erwärmet ihre Brust durch Zaubertöne:
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Dem starren Erz, der abgestorb’nen Sehne
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Entlokt der Göttin Hand ein seelenvolles Spiel.
 
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Sie winkt! Und Orpheus steigt hernieder;
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Der Graje staunt, und fühlt zum erstenmal.
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Es tönen schon des Mäoniden Lieder:
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Und auf des Ruhms weitrauschendem Gefieder
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Schwingt sich der Heros auf, und glänzt im Göttersaal.
 
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Wer ist dort hoch empor gestiegen?
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Es strömt sein Hymnus, gleich der Meeresfluth.
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Des Thebers goldne Lyra rauscht von Siegen:
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Sich, wie von Staub umwölkt die Rosse fliegen!
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Wie Jovis Adler sanft auf Donnerkeilen ruht !
 
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Schon blüh’n gepflanzte Nationen;
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Im fernen Osten wird ihr Ruhm genannt.
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Es trieft der Helden Schweiß auf Lorbeerkronen,
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Das Volkslied tönt, Verdienste zu belohnen:
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In jedem Herzen flammt das freye Vaterland.
 
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Weh über Persia’s Despoten!
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Mit Blut rächt Nemesis den stolzen Hohn.
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Sie, die dem Hellespont mit Fesseln drohten,
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Im Sklavenkreis mit Herrschertrotz geboten,
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Sie faßt nun blasse Furcht im Thale Marathon.
 
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Horch! Wie schon alle Tempel schallen!
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Die weite Lust erbebt vom vollen Chor.
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Dort, wo sie in den hohen Marmorhallen
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An den Altären dankend niederfallen,
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Wallt Siegeshymnenton im Opferduft empor!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.4 KB)

Details zum Gedicht „Die griechische Tonkunst“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
55
Anzahl Wörter
368
Entstehungsjahr
1793
Epoche
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die griechische Tonkunst“ stammt von Karl Heinrich Heydenreich, einem deutschen Dichter und Geisteswissenschaftler, der zur Zeit der späten Aufklärung lebte und schrieb (1764 - 1801). Es handelt sich um ein längeres lyrisches Werk mit elf Strophen zu je fünf Versen.

Auf den ersten Blick nimmt das Gedicht den Leser mit auf eine emotionale und phantasievolle Reise durch die griechische Mythologie und Kultur. Angesichts des Titels könnte man vermuten, dass es sich um eine Huldigung an die griechische Musik und Kultur handelt.

Das Gedicht erzählt, wie das lyrische Ich von der Macht des Entzückens und der Harmonie emporgehoben wird. Es schildert eindrucksvolle natürliche Phänomene wie aufquellende Harmonien und sich erhellenden Äther, die die Schönheit und Macht der griechischen Musik symbolisieren könnten. Das lyrische Ich scheint tief erstaunt und ergriffen von der anmutigen Pracht und Macht der Tonkunst, die als göttliches Wesen dargestellt wird.

Die Tonkunst steigt zur Erde herab und verwandelt sie in ein Elysium - ein mythischer Ort des Glücks und des Friedens in der griechischen Mythologie. Sie erweckt Gefühle des Mitgefühls in den rohen Herzen der Menschen und lockt ein „seelenvolles Spiel“ aus der starren Materie hervor. Es werden die mythischen Helden Orpheus und der Mäonide erwähnt, die für ihre musikalischen Fähigkeiten bekannt sind, und die Wirkung ihrer Musik - der Ruhm, Siegen, Belohnungen und die Stärkung des Nationalgefühls - wird beschrieben.

Bezüglich der Form und Sprache des Gedichts: Heydenreich verwendet eine reiche und bildhafte Sprache, die eine Atmosphäre von Erhabenheit, Feierlichkeit und Bewunderung schafft. Die Versform ist streng und regelmäßig, was eine Art von Ordnung und Schönheit widerspiegelt, die auch in der griechischen Kunst und Kultur hochgeschätzt wird. Der Ausdruck ist metaphorisch und mit vielen Vergleichen und Anspielungen auf die griechische Mythologie und Geschichte gefüllt, die eine Kenntnis dieser Themen vom Leser erfordern.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Die griechische Tonkunst“ eine Ode an die transformative und erhebende Macht der Musik ist, die in der Lage ist, die einfachsten Elemente und die rohesten Gemüter in etwas Erhabenes und Schönes zu verwandeln. Es feiert auch die reiche und beeindruckende Kultur und Geschichte der griechischen Nation.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die griechische Tonkunst“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Heinrich Heydenreich. Geboren wurde Heydenreich im Jahr 1764 in Stolpen. Im Jahr 1793 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Klassik zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 368 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 55 Versen. Ein weiteres Werk des Dichters Karl Heinrich Heydenreich ist „Der erste Mai“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die griechische Tonkunst“ keine weiteren Gedichte vor.

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