Nietzsche, Friedrich - Vereinsamt (Gedichtanalyse)

Schlagwörter:
Friedrich Nietzsche, Interpretation, Analyse, Referat, Hausaufgabe, Nietzsche, Friedrich - Vereinsamt (Gedichtanalyse)
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Referat

„Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche (Gedichtinterpretation)

Vereinsamt
von Friedrich Nietzsche

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein,
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
 
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
 
Die Welt - ein Tor
10 
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
11 
Wer das verlor,
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Was du verlorst, macht nirgends Halt.
 
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Nun stehst du bleich,
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Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
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Dem Rauche gleich,
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Der stets nach kältern Himmeln sucht.
 
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Flieg, Vogel, schnarr
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Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
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Versteck, du Narr,
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Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
 
21 
Die Krähen schrein
22 
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
23 
Bald wird es schein,
24 
Weh dem, der keine Heimat hat!

(„Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (24.6 KB) zur Unterstützung an.)

Interpretation

Das Gedicht „Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche, welches 1884 veröffentlicht wurde, handelt von einem Menschen, der sich nach Freiheit sehnte und seine Heimat verließ. Nun findet er sich einsam und ohne Geborgenheit in der weiten Welt wieder. Dieses Werk spiegelt den inneren Konflikt des Autors selbst wider.

Der Protagonist ließ sich verführen, seinem Zuhause den Rücken zu kehren und strebt jetzt nach Freiheit. Das lyrische Ich zeigt Reue und betrachtet dieses Handeln als Fehler. Es führt zu einem einsamen Irrweg, auf dem das lyrische Ich seine Qualen verborgen hält.

Sechs Strophen, gegliedert in jeweils vier Verse, sind durch einen Kreuzreim miteinander verbunden und schaffen eine geordnete Struktur. Diese Struktur ermöglicht es dem lyrischen Ich, dem Angesprochenen seine missliche Lage deutlich zu machen. Das Gedicht folgt einer zirkulären Struktur, die eine zunehmende Steigerung bis zur letzten Erkenntnis zeigt: „Weh dem, der keine Heimat hat!“ Dies ist eine Weiterentwicklung im Vergleich zum Anfang des Gedichts, der mit „Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!“ startet. Dieser Aufbau und die Verwendung des Jambus unterstreicht den tadelnden Rhythmus, der dem Davongelaufenen nach schallt. Die männlichen Kadenzen, bedingt durch den Jambus, geben dem Tadel zusätzlichen Nachdruck. Dunkle Vokalklänge von a, o und u dominieren und tragen zu einer düsteren Stimmung bei.

Schon der Titel weist den Leser darauf hin, dass es um Isolation und Entfremdung geht. Vereinsamung wird als Prozess beschrieben – die Figur war nicht immer allein, sondern ist durch ein Ereignis, in diesem Fall die bewusste Entscheidung, die Heimat zu verlassen, in Einsamkeit geraten.

Bereits in der ersten Strophe wird auf drohendes Unheil hingedeutet, durch Krähen symbolisiert, welche als Vorboten des Unheils dienen. Ihr „schwirrendes“ Fliegen in Richtung Stadt vermittelt den Eindruck einer Invasion durch Unheil, repräsentiert durch die nahende Decke aus Schnee, die für den Wintereinbruch steht. Der Wechsel zwischen zwei- und vierhebigen Versen betont die lang anhaltenden Auswirkungen bestimmter Ereignisse, wie das Eintreffen der Krähen und den Schnee, welche in den vierhebigen Versen beschrieben und von den zweihebigen Versen eingeführt werden.

Die Einsamkeit ergibt sich auch aus der Tatsache, dass der Protagonist seine Heimat hinter sich gelassen hat. Dies könnte ein Zeichen für eine mögliche Abwanderung anderer Stadtbewohner sein, da die Krähen das Unheil in die Stadt tragen. Das Wort „noch“ wird durch einen Bindestrich isoliert, was den Ausruf „Heimat hat!“ hervorhebt und einen sehnsüchtigen Klang erzeugt.

In der zweiten Strophe wird der Angesprochene vom lyrischen Ich als Narr tituliert, weil er „vor Winters in die Welt entflohn“ ist, was eine Doppeldeutigkeit birgt: Die Flucht könnte entweder vor dem Anbruch des Winters oder dem Winter selbst gemeint sein.

Der Narr steht „starr“ da und blickt zurück – ein Kontrast zwischen Stillstand und rückwärtiger Bewegung. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf das Innehalten des Protagonisten, nachdem er vorher aktiv unterwegs war. Der Ausruf „ach! wie lange schon!“ betont nicht nur die lange Zeitspanne, sondern vermittelt zudem eine große Entfernung zur Heimat und das Verlangen nach dieser.

Die Sehnsucht, die in der dritten Strophe vorkommt, manifestiert sich als ein Begehren nach Freiheit. Dies wird durch das Bildnis der Welt als ein offenes Tor unterstrichen, welches unendliche Freiheit verspricht. Doch wenn der Mensch durch dieses Tor schreitet, sieht er bloß „stumme und kalte Wüsten“. Die Attribute „stumm und kalt“ unterstreichen die Distanz und die Ablehnung, die man empfindet. Die Metapher der „tausend Wüsten“ steht für die grenzenlose Leere, die einen umfängt, sobald man sich von der Heimat entfernt – ein Kontrast zu dem anfänglichen Freiheitsversprechen, das als ein Tor mit unzähligen Möglichkeiten erschien.

Diese Welt unbegrenzter Freiheit verwandelt sich jedoch in eine Welt unbegrenzter Verlorenheit. Interessant ist dabei die Doppelbedeutung des Wortes „Tor“: Es kann nicht nur als Durchgang, sondern auch als Synonym für einen Narren verstanden werden und wirft somit die Frage auf, ob die Entscheidung, in die Welt zu fliehen, nicht töricht war. Denn mit dem Verlassen der Heimat ging ein kostbares Gut verloren, und „wer das verlor, [...] macht nirgends halt“. Der hier beschriebene Zustand des Nicht-Innehalten-Könnens bildet einen Gegensatz zum Verharren, das in der vorhergehenden Strophe dargestellt wurde - ein Verweis auf das innere Erleben der Person, die keinen Halt mehr finden kann und ebenso moralischen Prinzipien nicht mehr folgt. Ob dieser moralische Verlust bereits zu Hause stattfand und ob das die eigentliche Ursache für die Flucht war, bleibt offen, betont durch die Wiederholung dieser Aussage.

Die vierte Strophe beginnt mit einer abgewandelten Wiederholung des fünften Verses der vorherigen Strophe. Der Begriff „starr“ wird durch „bleich“ ersetzt, wobei das Wort „nun“, welches den Vers einleitet, eine zeitliche Trennung von den vorangegangenen Strophen markiert. Die Blässe könnte von der Erkenntnis herrühren, etwas verloren zu haben.

Die „Winter-Wanderschaft“ ist eine weitere Metapher, die die Einsamkeit in der kargen Umwelt verdeutlicht. Eine Wanderschaft impliziert üblicherweise einen Start- und Endpunkt, doch eine Winter-Wanderschaft symbolisiert ein scheinbar endloses Umherirren, zu dem der Mensch „verflucht“ ist. Dass der Wanderer ständig „nach kälteren Himmels“ sucht, verdeutlicht die Endlosigkeit dieses Zustands, wobei kältere Himmel keineswegs die Wärme und das Zuhause bieten, die das Ziel einer Wanderschaft sein sollten.

Die Verwendung des Rauches als Vergleich und dessen Reimbindung an das Wort „bleich“ lassen den Wanderer in der bleichen Winternatur aufgehen und verschwinden. Die Erwähnung mehrerer Himmel steigert das Gefühl der Verlorenheit weiter.

Zu Beginn der fünften Strophe wird das Himmelsbild fortgeführt und mit dem Symbol der Krähen verknüpft. Ein Vogel, speziell ein Wüstenvogel, soll fliegen und ein Lied „schnarren“. Normalerweise stehen Himmel und Flug für Freiheit, doch in diesem Fall wird die Freiheit durch den schrillen „Wüstenvogel-Ton“ beklagt, da ein Wüstenvogel in der Wüste einsam ist - besonders im Vergleich zu einer Schar Krähen. Hier taucht das Wüstenbild zum zweiten Mal auf und kontrastiert mit der Kälte des Winters; doch zugleich unterstreichen beide – die Wüste und der Winter – die vorherrschende Leere.

Die Bezeichnung „Narr“ wird erneut verwendet. Eingefordert wird, dass dieser seine Schmerzen, symbolisiert durch „blutend Herz“, hinter einem Schutzwall aus Kälte, dargestellt durch „Eis“, und Verachtung, ausgedrückt als „Hohn“, verbergen soll. Die Wiederholung der Wörter „Dein Lied“ und „Dein blutend Herz“ betont die Verknüpfung zweier Verse innerhalb des Gedichts, die bereits durch den Kreuzreim verbunden sind. Das Leid, das der Narr in sich trägt, wird in seinem Lied hörbar, und nur ein Narr würde dieses Leid nicht verstecken. Er täte dies, indem er eine Mauer aus „Eis und Hohn“ errichtet. Würde er sein Leid offen zeigen, müsste er eingestehen, dass die Entscheidung, seine Heimat zu verlassen, falsch war. Durch den Reim scheint es, als müsste das Lied des Narren höhnisch klingen, da „Ton“ mit „Hohn“ verknüpft wird.

In der fünften Strophe gipfelt die Intensität schließlich in den gebieterischen Aufforderungen, den Imperativen. Die letzte Strophe präsentiert sich hingegen als ruhig, da sie lediglich eine Repetition der ersten darstellt, abgesehen vom letzten Vers. Mit der Warnung „Weh dem, der keine Heimat hat!“ endet das Gedicht und scheint eine Appellation des lyrischen Ichs zu sein, die eigene Heimat nicht zu verlassen, angesichts der zuvor ausführlich dargelegten Konsequenzen.

Zusammenfassend lässt sich das Gedicht als eine lehrreiche Schilderung charakterisieren. Es zeigt eine Zuspitzung der Vereinsamung und der Einsamkeit selbst auf.

Geht man davon aus, dass das lyrische Ich sich selbst adressiert, spiegelt das Gedicht den Charakter Nietzsches wider. Als der Urheber des Nihilismus verwirft er bewusst moralische Werte auf seiner Suche nach Freiheit, bereut jedoch die daraus resultierende Vereinsamung. Nun ist er gezwungen, neue Werte zu finden, um in seiner Not daran festhalten zu können.

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