Goethe, Johann Wolfgang von - Neue Liebe, neues Leben (Gedichtinterpretation)

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Referat

Deutsch – Gedichtanalyse von „Neue Liebe, neues Leben“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Neue Liebe, neues Leben
von Johann Wolfgang von Goethe

Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben !
Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles was du liebtest,
Weg, warum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh -
Ach, wie kamst du nur dazu !
 
Fesselt dich die Jugendblüte,
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Diese liebliche Gestalt,
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Dieser Blick voll Treu und Güte
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Mit unendlicher Gewalt?
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Will ich rasch mich ihr entziehen,
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Mich ermannen, ihr entfliehen,
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Führet mich im Augenblick,
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Ach, mein Weg zu ihr zurück.
 
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Und an diesem Zauberfädchen,
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Das sich nicht zerreißen lässt,
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Hält das liebe lose Mädchen
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Mich so wider Willen fest;
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Muss in ihrem Zauberkreise
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Leben nun auf ihre Weise.
23 
Die Veränderung, ach, wie groß!
24 
Liebe! Liebe! Laß mich los!

(„Neue Liebe, neues Leben“ von Johann Wolfgang von Goethe ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (24.7 KB) zur Unterstützung an.)

Das im Jahr 1775 von Johann Wolfgang von Goethe veröffentlichte Volkslied „Neue Liebe, neues Leben“ thematisiert das Gefühl der Liebe als Einengung der Persönlichkeit und daraus resultierend das Bedürfnis nach Entfaltung der Individualität. Damit steht das Gedicht klar im Kontext der Epoche des Sturm und Drang, dessen grundlegende Forderung das Ausleben des in jedem Menschen verankerten Originalgenies im Sinne der Individualität darstellt. Formal ist das Volkslied in drei Strophen mit jeweils acht Versen unterteilt und weicht in diesem Sinne von der typischen Strophenform des Volkslieds, dem Quartett, ab. In allen Strophen liegt in den ersten vier Versen d Kreuzreim und in den folgenden vier Versen ein doppelter Paarreim vor (Notation der ersten Strophe: (abab cc dd). Kein Reim wird im Verlauf des Gedichtes wiederholt. Die Kadenzen sind korrespondierend aufgebaut (wmwm ww mm) und das Metrum ist bestimmt von einem durchgängigen vierhebigen Trochäus, sodass das Gedicht erstens ein rhythmischer, melodischer Klang und zweitens ein freudiger beziehungsweise aufgeregter Form zugrunde liegt. Auffällig ist die Vielzahl der Fragen zu Beginn der ersten beiden Strophen, die konterkariert wird durch häufig auftretende Ausrufe (vgl. V. 3, 8, 23, 24). Zudem nimmt das lyrische Ich in jeder Strophe die sich wiederholende Interjektion „Ach“ (V. 8. 16, 23) Vor abschließend für den formalen Aufbau ist auf die Enjambements der zweiten und dritten Strophe zu verweisen. Während in der ersten Strophe kein Enjambement vorhanden ist, steigt die Zahl der Enjambements in jeder Strophe. Dies könnte ein Hinweis auf die zunehmende Zerrissenheit des lyrischen Ichs sein.

Dieses lyrische Ich spricht in einer sehr spezifischen Sprechsituation, in der es seine Gefühle zu einem Mädchen zum Ausdruck bringt. Insgesamt zeigt das Gedicht den Gefühlsausdruck eines personalisierten lyrischen Ichs (vgl. V.1), vermutlich männlich, das zunächst sein Herz (vgl. V. 1), dann die Liebe (vgl. V. 24) adressiert, das Mädchen wird nicht direkt angesprochen, sondern es wird thematisiert. Es liegt eine sehr emotionale Sprechsituation vor, angereichert mit diversen Fragen und Ausrufen, bei der durch die Adressierung des Herzens ein dialogischer Charakter erzeugt wird. Dieser vermeintliche Dialog ist aber eine Selbstreflexion des lyrischen Ichs – das lyrische Ich reflektiert die Veränderungen in seinem Leben, die durch eine vermutlich neue Beziehung (s. Titel) erzeugt wurden, und fühlt sich eingeengt beziehungsweise in dem Ausleben seiner Individualität eingeschränkt. Inhaltlich wird dies verdeutlicht durch die indirekte Selbstadressierung des lyrischen Ichs. In der ersten Strophe fragt das lyrische Ich sein Herz, warum es sich so bedrängt fühle, und zählt Veränderungen im Leben auf. Es seien sowohl die Dinge, die das Herz liebte, als auch Aspekte, um die sich das Herz Sorgen machte, nicht mehr da. Verschwunden seien auch „Fleiß und (…) Ruh“ (V. 7). Die zweite Strophe zeigt wiederum Fragen an das Herz. Das lyrische Ich fragt sein Herz, ob es von dem Anblick und dem Liebreiz der Geliebten gefangen gehalten werde, und beschreibt dann die Unmöglichkeit der Abkehr selbstreflexiver Perspektive.

In der dritten Strophe findet eine selbstreflexive Beschreibung des Festgehalten-Werdens gegen den eigenen Willen statt und schlussendlich bittet das lyrische Ich die Liebe, es wieder freizugeben. Die Darstellung der Inhalte verweist noch einmal deutlich auf die Komplexität der Sprechsituation. Während in der ersten Strophe klar das Herz adressiert wird (vgl. V. 1), wechselt das lyrische Ich zur Selbstadressierung Mitte der zweiten Strophe (vgl. V. 13). Die Fragen sind an dieser Stelle geklärt, ab diesem Punkt geht es um die Konsequenzen, die das lyrische Ich aus der erkannten Situation meint ziehen zu müssen. Nicht zuletzt durch diesen Wechsel wird eine Dualität der Stimmungslage des lyrischen Ichs in Bezug auf den Gedanken an die Gebete erzeugt. Das lyrische Ich ist verwirrt und kann seine Emotionen nicht einordnen. Einerseits ist es glücklich (vgl. V. 9-11), andererseits empfindet es sich als eingeengt und sieht sich festgehalten (vgl. 12 und 20). Der Aspekt des Verwirrt seins wird neben der Vielzahl der selbstreflexiven Fragen insbesondere auch durch das Reimschema gestützt. Der ständige Wechsel des Kreuzreims, der in den beiden ersten Strophen einhergeht mit den selbstreflexiven Fragen, was das Herz bedränge und fessele (vgl. V. 2 und 9), stützt das Gefühl der Zerrissenheit. Die doppelten Paarreime der folgenden Verse wirken dann inhaltlich und formal wie der Versuch einer Selbstbestätigung. Gleichzeitig findet aber zwischen den Paarreimen ein Kadenzwechsel statt, auch hier wieder ein Hinweis auf die Spaltung. Die letzten beiden Verse der Strophen drücken dann in männlicher Kadenz abschließend die Verzweiflung aus, jeweils gestützt durch die Interjektion „Ach“ (V. 8, 16, 23), die hier sowohl Bedauern als auch Resignation verdeutlicht. Die Resignation, dass das lyrische Ich aus eigenen Kräften der Geliebten nicht „entfliehen“ (V. 14) kann, wird insbesondere durch den abschließenden Appell an die Liebe verstärkt, dass die Liebe das lyrische Ich loslassen solle (vgl. V. 24). Aus eigener Kraft kann sich das lyrische Ich nicht befreien. Damit liegt insgesamt ein stark selbstreflexiver Ansatz vor. Das lyrische Ich sieht die Veränderung seines Lebens und bedauert diese. In Form einer Aufzählung benennt es die Verluste und verwendet dabei ausdrucksstarke Verben wie lieben und betrüben (vgl. V. 5f.). Aber selbst hier betont das lyrische Ich die Zerrissenheit, denn es bedauert Dinge verloren zu haben, die es liebte und um die es sich gesorgt hat. In diesem Sinne geht es also um eine vollständige Veränderung des lyrischen Ichs durch die „neue Liebe“, diese hat ein „neues Leben“ (vgl. Titel) für das lyrische Ich geschaffen, dem es sich nicht „entziehen“ (V. 13) kann. Die Anaphern (V. 5-7) und Ausrufe (V. 3,8, 23, 24) unterstützen die Darstellung dieser emotionalen Lage, beschleunigen zusätzlich zum Metrum und zu den Enjambements den Lesefluss. Damit liegt in dem Gedicht ein Wechselspiel von Entschleunigung durch die Fragen und die Interjektionen und Beschleunigung durch die Anaphern, Aufzählungen und Ausrufe vor. Weiter unterstreicht die erkennbare Steigerung von an das Herz gestellten Fragen zu selbstreflexiven Fragen hin zum abschließenden flehentlichen Appell an die Liebe die Handlungsunfähigkeit des lyrischen Ichs. Es wird durch das „liebe lose Mädchen“ (V. 19) in einem „Zauberkreise“ (V. 21) festgehalten. Insbesondere das Wortspiel „liebe lose“ (V. 19) kennzeichnet wieder die Dualität der Empfindung, da hier das Mädchen sowohl anerkennend („Liebe“) als auch despektierlich („lose“) beschrieben wird. Zudem entsteht zumindest beim Vortrag auch eine Verbindung zum Wort lieblos, das wiederum eine abwertende Perspektive auf das Mädchen verdeutlichen würde. Gleichzeitig beschreibt das lyrische Ich aber den Blick des Mädchens als „voll Treu und Güte“ (V. 11), sodass die Dualität der Empfindungen zutage tritt. Das lyrische Ich bereut nicht unbedingt die neue Liebe als es bedauert die Veränderungen, die aus dieser Situation entstanden sind. Aber es ist und bleibt verliebt, sonst müsste es nicht die Liebe bitten, es loszulassen. Das Mädchen wird als Zauberin beschrieben (vgl. V. 17 und 21) und die Frau damit als dämonisches Wesen gezeichnet, das das lyrische Ich aus der Selbstgestaltung seines Lebens herausnimmt, denn das lyrische Ich ist in „ihrem Zauberkreise“ (V. 21), nicht mehr in seinem Wirkungskreis; aus seiner Sicht hat das Mädchen es in ihre Welt gezogen, sie ist nicht in sein Leben eingetreten, und es muss „Leben nun auf ihre Weise“ (V. 22) seiner Individualität entsprechend. Und wieder kumuliert auch dieses Bild in den letzten beiden Versen des Gedichtes. Die Veränderung an ihm selbst empfindet das lyrische Ich als so groß, dass es die Liebe bittet, es loszulassen.

Insgesamt stellt damit das Gedicht ein eher konterkarierendes Liebesgefühl dar. Durch den Titel und das Metrum meint der Rezipient zunächst ein Liebesgedicht wahrzunehmen, das ein euphorisches Gefühl des Neuverliebtseins darstellt. Diese Annahme wird aber schnell gebrochen und der Rezipient entdeckt zusammen mit dem lyrischen Ich die Problematik: Das lyrische Ich fühlt sich durch die Liebe eingeengt, es kann sich selbst nicht völlig ausleben, sondern meint, auf die Art des Mädchens leben zu müssen. Damit, in diesem Bedürfnis nach Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität, drückt das Gedicht ein typisches Motiv des Sturm und Drang au So wird also inhaltlich wie formal immer wieder die Dualität des lyrischen Ichs dargestellt. Das lyrische Ich versucht, sich aus den empfundenen Zwängen zu befreien und seiner Individualität weiter nachzugehen, und diese Individualität spiegelt sich auch in dem formalen Aufbau wider.

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