Hauptmann, Gerhart - Bahnwärter Thiel (Standpunkt Werner Zimmermann)

Schlagwörter:
Gerhart Hauptmann, Werner Zimmermann, Referat, Hausaufgabe, Hauptmann, Gerhart - Bahnwärter Thiel (Standpunkt Werner Zimmermann)
Themengleiche Dokumente anzeigen

Referat

Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel

Aufgabe

Erörtern Sie kritisch den Standpunkt Werner Zimmermanns zu Inhalt und Struktur der novellistischen Studie „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann. Nutzen Sie für Ihre Argumentation auch den ersten und den letzten Absatz dieses Werkes, auf welche sich die Ausführungen Zimmermanns beziehen.

Lösungsvorschlag

Die novellistische Studie „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann (1862-1946) erschien 1887. Sie ist in die Zeit des Naturalismus einzuordnen, der eine Strömung am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland war. Der Naturalismus griff vor allem die Probleme der damaligen Zeit auf: Proletariat und Massengesellschaft während der Industrialisierung und vor allem die Schattenseiten dieser Gesellschaft und der herrschenden Gesellschaftsordnung waren oft verwendete Themen. Mit einem solchen Problem wird auch Bahnwärter Thiel konfrontiert. Zum Verlauf dieses Problems äußert sich der deutsche Literaturwissenschaftler Werner Zimmermann. Seine 9 Zeilen umfassende Aussage ist wie ein Beweis aufgebaut. In den ersten beiden Zeilen stellt er seine Hypothese dar. Danach (Z. 3-5) unterlegt er seine Behauptung mit 2 Beispielen vom Beginn und vom Ende der Novelle und bekräftigt seine Hypothese damit. Dann fasst er diese Erkenntnisse in den Zeilen 5 und 6 zusammen um nachstehend in den Zeilen 6-9 seine Aussage zu verallgemeinern. Seine Aussage hat die Form eines Induktionsbeweises, denn er schließt vom Fall des Bahnwärters auf eine allgemeine Aussage.

Seine These bezieht sich auf das Handlungsgefälle der Novelle, von dem er behauptet, dass der Anfang im Gegensatz zum Ende der Novelle am deutlichsten zeigt, wie drastisch die Handlung fällt. Aus dieser Intention heraus hat er seine ganze Aussage antithetisch aufgebaut. Somit konnte er überzeugend den Kontrast darstellen, der in der Novelle sichtbar wird. Zimmermann sagt aus, dass Thiel zu Beginn der Handlung in einer heilen Welt (als „sonntäglicher Kirchgänger“ Z. 3) lebt, er jedoch am Ende ein tragisches Ende erleben muss (in einem „Untersuchungsgefängnis“ Z. 5). Weiterhin stellt er dann eindringlich die Entwicklung vom „freundlichen Beginn“ (Z.6) bis zum „düsteren, trostlosen Ende“ (Z. 6) dar.

Diese Aussagen untermauert er mit vielen Adjektiven (z.B. Z. 7 „gesunden, geordneten Lebens“), wahrscheinlich um eine höhere Emotionalität und Anschaulichkeit zu erzeugen. Mit der Paronomasie in den Zeilen 6 und 7 („heilen Welt“ bzw. „Heillosigkeit“) drückt er gleichzeitig durch den gleichen Wortstamm ein Paradoxon aus, da er mit dieser Paronomasie in sich gegensätzliche Tatsachen ausdrückt. Dies ist ein weiterer Beweis für seine antithetische Beweisführung. Er stellt die zwei Seiten des „jähe[n] Sturz[es]“ (Z.5) sehr eindeutig gegenüber. Man kann sagen, dass es für ihn in der Novelle nur „Schwarz“ oder „Weiß“ gibt, entweder ein ausgesprochen glückliches oder ein todunglückliches Leben. Ein Leben, bei dem beide Komponente (Glück und Probleme) gleichzeitig auftreten, scheint bei ihm ausgeschlossen zu sein. Allerdings kann man sich die Verwendung dieser extremen Unterschiede damit erklären, dass er dieses Handlungsgefälle der Novelle besonders deutlich machen wollte.

Wenn man die Novelle chronologisch liest, erscheint einem dieser Sturz nicht sehr drastisch, da sich eine eher langsame Entwicklung bis hin zur Katastrophe vollzieht. Mit seiner Aussage wollte Zimmermann jedoch im Nachhinein verdeutlichen, wie sehr sich das Leben Thiels, insgesamt betrachtet, recht schlagartig und nachhaltig verändert hat. Dies konnte er am besten mit der Gegenüberstellung von Anfang und Ende der Novelle erreichen. Dieser Ansicht stimme ich nur teilweise zu.

Zunächst möchte ich anmerken, dass sich dieser Sturz nicht nur mit Thiel, sondern auch mit dessen Frau Lene vollzieht. Auch Lene führt anfangs ein recht glückliches Leben, das sich mit dem Tod Tobias’ und letztendlich ihrer eigenen Ermordung und dem Mord an ihrem Kind durch Thiel auch in eine Katastrophe verwandelt. Jedoch kann man in beiden Fällen nicht davon sprechen, dass beide, sowohl Thiel als auch Lene, vor dem Tod von Tobias ein wirklich glückliches Leben führten. Wird von der Ehe der beiden gesprochen, fällt in diesem Zusammenhang kein einziges Mal das Wort „Liebe“, was ich mit einem wirklich glücklichen Leben in Verbindung setze. Weiterhin wird das angeblich glückliche Leben Thiels schon vor der Hochzeit mit Lene stark beschränkt. Diese „glückliche“ Zeit wurde nur mit den ersten 26 Zeilen in der Novelle beschrieben und auch diese kurze Beschreibung ist sehr negativ geprägt, was Zimmermann komplett außer Acht lässt. Er betrachtet nur Tatsachen, wie, dass Thiel ein Kirchgänger war, was den Anschein eines glücklichen, ruhigen Lebens erweckt. Verfolgt man den Text jedoch an dieser Stelle weiter, wird noch im gleichen Satz von Krankheiten Thiels gesprochen. Diese „Krankheiten“ zeigen sich dann als zwei schwere Unfälle, die Thiel während seiner Arbeit erlitt. Dies stellt die erste Einschränkung seines angeblich glücklichen Lebens dar. Kurz danach (S.5 Z. 13-20) wird erst gesagt, dass Thiel zuvor 5 Jahre lang allein zur Kirche kam, was nicht gerade von einem geselligen Leben zeugt. Doch selbst die scheinbare Lösung dafür wird wieder negativ besetzt. Zwar kam er in Begleitung zur Kirche, jedoch deutet auch die Beschreibung dieser Frau (Minna) auf kein glückliches Ende hin. Minna wird als „schmächtig[..] und kränklich aussehende[s] Frauenzimmer“ (S. 5 Z. 16) bezeichnet. Es wird gesagt, dass „die Leute meinten, zu seiner herkulischen Gestalt“ (S. 5 Z.17/18) würde Minna nicht passen, was erneut im Kontrast zu einem überglücklichen Leben steht.

Es dauert auch keine zwei Jahre, bis Minna stirbt und die zwar bis dahin glücklichste, aber nicht nur glückliche, Zeit Thiels beendet wurde. Wie ich also gezeigt habe, war Zimmermanns Aussage, Thiel hätte zu Beginn der Novelle in einer „heilen Welt“ (Z. 6/7) gelebt, zwar in der Grundtendenz richtig, jedoch übertrieben. Zimmermann erkannte dafür, meiner Meinung nach, richtig, dass die Novelle einem Handlungsgefälle folgt. Dieses Gefälle beginnt schon auf der ersten Seite (S. 5) ab Zeile 27 mit der Hochzeit zwischen Thiel und Lene. Schon hier sagt Thiel aus, dass er nicht aus Liebe heiratete, sondern um zu „wirtschaften“ (S. 5 Z. 41) und damit sie sich um Tobias kümmern könne. Letzteres war dabei sein ausschlaggebender Grund für die Hochzeit. Diese Tatsache an sich ist für mich schon ein Armutszeugnis, denn man sollte nie heiraten müssen, nur um den Haushalt führen zu können. Zwischen Thiel und Lene entwickelt sich auch im Laufe der Novelle keine Liebe, nur körperliche Anziehung. Thiel wahre Liebe gilt immer noch seiner ersten Frau Minna und deren gemeinsamen Sohn Tobias. Als Leser bekommt man schon recht zeitig mit, wie Lene mit Tobias umgeht. Einen Knotenpunkt in der Novelle stellt dann jedoch der Moment dar, an dem Thiel eines Tages während seiner Arbeitszeit noch einmal nach Hause zurückkehren muss. Er findet dort Lene vor, wie sie Tobias anschreit und schlägt. In dem Moment merkt Thiel zum ersten Mal bewusst, wie sehr sich sein Leben mit der Hochzeit Lenes verschlechtert hat. Bis zu diesem Punkt erschien Thiel recht anteilnahmslos an der realen Welt, die sich mit Lene und seinen Kindern befasst. Er dachte ständig an die Vergangenheit mit Minna und lebte diese Gedanken in seinem Bahnwärterhäuschen aus. Selbst bei der Situation, die Thiel vorfindet, erscheint er nicht sonderlich affektiert, im Gegenteil: er wirkt gleichförmig oder unbeeindruckt, als würde er die Lage gar nicht realisieren. Dies ist ein weiterer Punkt, an dem man merkt, dass Thiel ein sehr tristes Leben führt und den Tod Minnas nicht verkraftet hat. Betroffenheit stellt sich bei ihm erst zur Katastrophe der Novelle ein, zu dem Zeitpunkt, bei dem Lene mit zu seinem Arbeitsplatz kommt, um den dort gelegenen Acker zu bestellen. In diesem Augenblick erfolgt in Thiel ein erstes Mal die Konfrontation seiner geistigen und realen Welt.

Dieses Aufeinandertreffen löst in ihm eine erste Ergriffenheit aus. Auch wenn sich die für Thiel schreckliche Lage durch den Spaziergang mit Tobias scheinbar beruhigt, kommt es kurz danach zur Katastrophe: Tobias wird, wahrscheinlich durch Lenes Unachtsamkeit, von einem Zug erfasst und dabei tödlich verletzt. Diese Stelle ist für mich der Punkt, an dem Thiels Leben seinen Tiefpunkt erreicht hat. Er hat alles, was ihm lieb war (Minna und Tobias) verloren und ist mit einer Frau verheiratet, die er nicht liebt. Nach dem Tod von Tobias tritt eigentlich für Thiel eine relativ positive Wendung ein. Auch wenn die Tat (der Mord an Lene und deren Kind) an sich ein schreckliches Verbrechen ist, scheint es für Thiel nicht diesen Anschein zu haben. Der Mord wird dem Leser so dargestellt, dass man den Eindruck bekommt, Thiel erlebt ihn nicht mehr bewusst, alles wirkt so, als ob er wie „vernebelt“ war. Das zeigt die Tatsache, dass nicht der Mord an sich beschrieben wird, sondern nur, wie andere Leute dann die Leichen finden und Thiel an der Unglücksstelle von Tobias sitzt. Thiel baut sich zum Zeitpunkt von Tobias’ Tod einen Wahn auf, zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen Tiefstand erlebt. In diesem Wahn beging er wahrscheinlich den Mord, für den er dann auch nicht bestraft wird, als er im Untersuchungsgefängnis ist. Diesen Moment bezeichnet Zimmermann als Tiefpunkt seines Lebens. Ich denke aber, dass das Ende einen eher positiven Ausgang für Thiel bedeutet. Er lebte in seinem Wahnsystem. Von diesem Wahn hat ihn nach dem Tod Minnas noch Tobias als letztes Bindeglied zwischen Realität und Wahn geschützt. Als dann auch noch Tobias starb, verfiel Thiel komplett in diesen Wahn und lebt nun vermutlich in seiner Gedankenwelt glücklich mit Minna und Tobias. Diese Verbindung wird dadurch deutlich, dass Thiel zum Schluss immer noch die Mütze von Tobias liebkost, „wie etwas, das Leben hat“ (S. 32 Z. 25). Auch wird Thiel in eine der besten Psychiatrien der damaligen Zeit eingewiesen: die Charité, die für die qualitätsvolle Pflege von Verrückten stand. Nach Außen scheint es also so, als hätte Thiel ein schlimmes Ende gefunden, für Thiel an sich hat sein Leben jedoch noch einen, den Umständen entsprechenden, glücklichen Ausgang gefunden. Einem letzten Argument Zimmermanns kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Zimmermann verallgemeinert in seiner Aussage, dass das „Zerstörerische“ (Z. 9) immer über das „Heile und Heilende“ (Z. 9) siegen würde. Diese Annahme kann ich nicht teilen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass jedes Leben immer ein tristes, einsames, grausames Ende nimmt. Selbst aus dem eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis könnte ich genügend Beispiele aufführen, die zeigen, dass jemand auch ein glückliches Leben bis zum Tod führen kann.

Einen weiteren Aspekt, den diese Novelle verkörpert, ist Hauptmanns Theorie vom „Urdrama“, die an diesem Beispiel sehr deutlich wird. Hauptmann war der Ansicht, dass alles menschliche Leben auf Konflikte ausgerichtet sei; entweder kämpft es fortwährend dagegen an, oder es hört auf zu existieren. Das Tragische sah er als Grundkomponente des Lebens an und der Ursprung dessen war seiner Meinung nach das „gespaltene Ich“. Dabei stellte er verschiedene Konfliktmodelle auf wie Liebe und Hass oder Leben und Tod. Der größte Krieg im Leben stellt für ihn jedoch das Verhältnis zwischen Mann und Frau dar. Im „Bahnwärter Thiel“ verarbeitet er diese Theorie, indem er den Krieg zwischen Frau und Mann noch auf einen inneren Kampf zwischen der spirituellen Welt und der triebhaft-vitalen Realität ausweitet. Thiel durchläuft nach dem Tod Minnas einen ständigen Kampf zwischen Sehnsucht und Gefangenschaft. Der arme Bahnwärter stellt dabei die charakteristische Schicksalsfigur des Menschen überhaupt dar. In ihm findet unbewusst das Urdrama des menschlichen Daseins statt. Er kämpft fortwährend gegen den Tod Minnas an, indem er sich in seine spirituelle Welt zurückzieht. Diese Reminiszenzen werden jedoch ständig durch den täglichen Krieg mit Lene unterbrochen.

Der Bahnwärter verfügt also über ein gespaltenes Ich auf der Ebene „Minna – Lene“. Minna wird durch Thiel eine Art mystische Verehrung zuteil. Sie verfügt über edle Eigenschaften, stellt eine moralische Instanz dar und ist auch äußerlich eine sehr schöne, zierliche Frau. Durch diese Vorbildfunktion wirkt sie auf den Bahnwärter jedoch ein wenig unerreichbar. Sie ist die Mutter seines ersten Sohnes, Tobias. Zwischen diesen drei Personen herrscht eine innige geistige Liebe, die auch durch den Tod Minnas nicht enden will. Das Bahnwärterhäuschen von Thiel ist der Ort, an dem er seiner gedanklichen Welt an Minna ungestört nachgehen kann. Im extremen Gegensatz zu Minna steht Lene. Sie verkörpert für Thiel die körperliche Anziehungskraft. Lene sieht sehr grob und stämmig aus und unterscheidet sich auch geistig von Minna. Lene scheint nicht über solche Ideale und moralische Ansichten zu verfügen. Die Hochzeit zwischen Thiel und Lene war eine reine Zweckheirat, weil Thiel eine Frau brauchte, die den Haushalt führt und sich um Tobias kümmert. Man kann sogar sagen, dass Thiel im Laufe der Novelle mehr und mehr Hass für Lene empfindet. Lene dominiert die Beziehung der beiden sehr, Thiel ist ihr regelrecht ausgeliefert. Thiel hat mit ihr ein weiteres Kind, über das jedoch so gut wie nichts berichtet wird. Es ist nicht bekannt, welches Geschlecht es hat, noch wie es heißt. Man bekommt den Eindruck, das Kind wäre gar nicht von Thiel. Das bekräftigt weiter die schlechte Beziehung zwischen Thiel und Lene. Ein weiterer Aspekt ist auch das Verhältnis von Lene und Tobias. Lene ist für ihn die böse Stiefmutter. Sie lässt ihn arbeiten, schreit ihn an und schlägt ihn sogar. Das widerspricht wieder dem Verhalten Minnas, die Tobias als ihr leibliches Kind über alles geliebt hat. Hier schließt sich der Rahmen um den Inhalt der Novelle. Solche Probleme, wie sie dem Bahnwärter widerfahren, wurden oft vom Naturalismus aufgegriffen. Die alltäglichen Sorgen und Nöte des Proletariats, also der breiten Masse wurden oft als Motive in den Werken aus der Zeit des Naturalismus verwendet.

Dieses Video wurde auf YouTube veröffentlicht.

Zurück