Brecht, Bertolt - An die Nachgeborenen (Interpretation & Analyse)

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Bertolt Brecht, Interpretation, Analyse, Gedichtinterpretation, Nationalsozialismus, Adolf Hitler, Referat, Hausaufgabe, Brecht, Bertolt - An die Nachgeborenen (Interpretation & Analyse)
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Referat

Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen (Interpretation & Analyse)

An die Nachgeborenen
von Bertolt Brecht

I
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
 
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
10 
Der dort ruhig über die Straße geht
11 
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
12 
Die in Not sind?
 
13 
Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
14 
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
15 
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
16 
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)
 
17 
Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast!
18 
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
19 
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
20 
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
21 
Und doch esse und trinke ich.
 
22 
Ich wäre gerne auch weise.
 
23 
In den alten Büchern steht, was weise ist:
24 
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
25 
Ohne Furcht verbringen.
26 
Auch ohne Gewalt auskommen,
27 
Böses mit Gutem vergelten
28 
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,
29 
Gilt für weise.
30 
Alles das kann ich nicht:
31 
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
 
32 
II
33 
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
34 
Als da Hunger herrschte.
35 
Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs
36 
Und ich empörte mich mit ihnen.
37 
So verging meine Zeit,
38 
Die auf Erden mir gegeben war.
 
39 
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.
40 
Schlafen legte ich mich unter die Mörder.
41 
Der Liebe pflegte ich achtlos
42 
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
43 
So verging meine Zeit,
44 
Die auf Erden mir gegeben war.
 
45 
Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
46 
Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
47 
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
48 
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
49 
So verging meine Zeit,
50 
Die auf Erden mir gegeben war.
 
51 
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
52 
Lag in großer Ferne
53 
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
54 
Kaum zu erreichen.
55 
So verging meine Zeit,
56 
Die auf Erden mir gegeben war.
 
57 
III
58 
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
59 
In der wir untergegangen sind
60 
Gedenkt
61 
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
62 
Auch der finsteren Zeit
63 
Der ihr entronnen seid.
 
64 
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
65 
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
66 
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
67 
Dabei wissen wir doch:
68 
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
69 
verzerrt die Züge.
70 
Auch der Zorn über das Unrecht
71 
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
72 
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
73 
Konnten selber nicht freundlich sein.
 
74 
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
75 
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
76 
Gedenkt unserer
77 
Mit Nachsicht.

(„An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (29.9 KB) zur Unterstützung an.)

Bertolt Brecht thematisiert 1939 in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ am Beispiel des Lebens im Dritten Reich, die Ablehnung gegen die vorherrschenden Gesellschaft und bittet die anschließenden Generationen um Nachsicht für das Verhalten der Personen, die versuchten das unmenschliche Regime mit Gewalt zu stürzen.

Das Gedicht An die Nachgeborenen von Bertolt Brecht ist einer der wichtigsten Texte der deutschen Exilliteratur. Es gehört zum Zyklus der Svendborger Gedichte. An die Nachgeborenen entstand inmitten 1934 und 1938. Das Gedicht ist das einzige aus Brechts Werk, zu dem eine Lesung via den Autor selbst überliefert ist. Es wurde am 15. Juni 1939 in Die neue Weltbühne, Paris publiziert.

Es handelt sich um ein politisches Gedicht, in dem der Autor seine Verortung als Exildichter bestimmt und sich sowohl zu den gegenwärtigen Verhältnissen (den „finsteren Zeiten“ des Nationalsozialismus) als gleichfalls zu Vergangenheit und Zukunft (der eigentlichen Botschaft „an die Nachgeborenen“) äußert.

Das Gedicht ist in drei Abschnitte eingeteilt, die mit römischen Zahlen nummeriert sind. Diese Abschnitte enthalten wiederum fünf bzw. vier Strophen. Ursprünglich war jeglicher dieser Abschnitte ebenso ein eigenes Gedicht. Die Sprache ist betont nüchtern, reimlos und rhythmisch frei kreiert. Abschnitt I ist vollends im Präsens, II im Präteritum und III des Öfteren im Futur gehalten. Das weist auf die oben erwähnten Zeiten hin, die in dem betreffenden Abschnitt behandelt werden.

Bertolt Brecht

Bertolt Brecht ist wohl einer der bekanntesten Schriftsteller der Exilliteratur des Dritten Reich. Er wurde 1898 in Augsburg geboren. Im Jahr 1918 wird er als Lazarettsoldat im Ersten Weltkrieg eingezogen. Zur Zeit der Weimarer Republik ist Brecht als Schriftsteller tätig und gibt einige linksorientierte Theaterstücke heraus. Nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ er auf Grund seiner jüdischen Herkunft und seiner marxistischen Position Deutschland. Während seiner Zeit im Exil entstanden unzählige gegen den Faschismus gerichtete Werke. Brecht schrieb außerdem für Exilzeitschriften, bspw. „die Sammlung“, und beteiligte sich somit an dem versuch das NS-Regime literarisch zu bekämpfen. Diese Einflüsse sind in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“ klar ausfindig zu machen.

Interpretation und Analyse

Das Gedicht ist aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben, der vermutlich Brecht darstellt. Es ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Der einleitende Abschnitt (Zeile 1-30) beschreibt die aussichtslose und ungewisse Situation der Leute in „finsteren Zeiten“ (Zeile 1), also im Dritten Reich. Brecht beschreibt zwei Gattungen von Bürgern. Die einen sind unwissend, naiv und verstehen die kritische Situation, in der sie leben, nicht. Ihr „argloses Wort ist [genauso] töricht“ (Zeile 2) wie „ein Gespräch über Bäume“ (Zeile 7). Sie kommunizieren über allgemeine und unwichtige Themen und hinterfragen das gewaltsame Handeln der Nation nicht. Dies sei ein Verbrechen, eben weil über die Untaten geschwiegen wird. Brecht fordert Bewusstsein über die Situation und Sensibilität.

Die übrige Gruppe, zu der sich Brecht zählt, lehnt das Regime zwar innerlich ab, passt sich jedoch gleichwohl äußerlich an. Sie haben noch das Nötigste zum Überleben, Brecht fragt sich allerdings, warum er Essen und Trinken hat, wenn andere Leute Hunger leiden müssen. „Aber wie kann ich essen und trinken, wenn Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?“ (Zeile 17.19), hier nutzt Brecht eine rhetorische Frage, mit der er auf die Ungerechtigkeiten hindeuten möchte. „Iß und trink du!“, befiehlt das Regime den Leuten. Mit einer solchen Ellipse werden ebendiese reduziert und zu Untertanen gemacht. Sie können lediglich überleben, weil die Herrschenden es ihnen gestatten.

Das Regime kann lediglich weiterbestehen, wenn es seine Macht mit Gewalt sichert. Es lässt keine Kritik zu und sucht seine Opfer willkürlich aus. Brecht sagt, es sei ausschließlich Glück und Zufall, dass er noch nicht vernichtet wurde. Die Personen leben in einer ausweglosen Situation, müssen ihr Überleben schützen und sind aus diesem Grund „nicht mehr erreichbar für .. Freunde, die in Not sind“ (Zeile 10/1). Sie können sich also untereinander nicht beistehen, da sie selber hilflos sind. Die Nationalsozialisten sicherten ihre Macht ebenso mit Gewalt und verfolgten Systemkritiker. Auf Grund dessen leben Menschen in Unsicherheit und Angst, wie bereits im ersten Abschnitt thematisiert.

Die fünfte Strophe unterscheidet sich von den vier vorherigen deutlich. Sie startet nicht mit einer Emphase und beschreibt nicht das Leben im Nationalsozialismus, stattdessen wird der Begriff „Weisheit“ definiert. Brecht bezieht sich auf die „alten Bücher“ (Zeile 22), also auf Lehren aus früheren Zeiten. Man soll „sich aus dem Streit der Welt halten“ (Zeile 23) und „ohne Gewalt auskommen“ (Zeile 25), also friedlich zusammenleben und sich nicht bekriegen oder einander Leid zufügen. Weisheit fordert Menschlichkeit, gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme. Böses soll mit Gutem bekämpft werden. Man solle seine Wünsche zurückstellen, wenn es anderen Menschen schadet. Nach diesen Werten kann das lyrische Ich nicht leben, da die Zwänge der nationalsozialistischen Gesellschaft dies nicht zulassen. Am Ende der fünften Strophe fasst Brecht die hoffnungslose Situation der Leute noch einmal mit „wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ (Zeile 30) zusammen.

Im anschließenden Abschnitt (Zeile 31-54) berichtet Brecht über sein Leben vor dem Nationalsozialismus. Alle vier Strophen enden mit: „So verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war“. 1918 kam er aus dem Ersten Weltkrieg zurück, daher „in die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung“ (Zeile 31). In der Bevölkerung herrschte immense Armut und es kam zu Aufständen und revolutionären Unruhen. Der Kaiser musste abdanken und das deutsche Reich wurde zu einer demokratischen Republik. Da Brecht sagt: „Und ich empörte mich mit ihnen“ (Zeile 34), ist anzunehmen, dass er sich gleichermaßen an den Aufständen beteiligte.

Zur Zeit der Weimarer Republik arbeitete Brecht als Autor von Theaterstücken. Er aß sein Essen „zwischen den Schlachten“ (Zeile 37), also nebst dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Er legte sich „unter die Mörder“ (Zeile 38) schlafen, lebte also mit den späteren Nationalsozialisten zusammen. Bis 1933 ahnte indes kein Einziger was später geschehen würde, demzufolge genossen die Personen das Leben, denn „der Liebe pflegte ich achtlos“ (Zeile 39). Brecht beklagt, dass er und die Bevölkerung die zunehmende Bedrohung des Nationalsozialismus nicht früh genug erkannten und deren Machtergreifung nicht verhindern konnten.

Nach der Weimarer Republik folgte 1933 das NS-Regime. Brecht emigrierte im selben Jahr des Reichstagsbrandes und schrieb im Exil einige gegen den Faschismus gerichtete Werke. „Die Sprache verriet [ihn] dem Schlächter“ (Zeile 44). Die Sprache ist dabei einerseits ein Zeichen des Klassenunterschiedes, denn ein Kommunist benutzt meist eine andere Sprache als ein Nationalsozialist.

Weiterhin drückt Brecht seine Kritik mit Hilfe der Sprache aus. Daher wird er zu einer Gefahr der Herrschenden, sodass diese ihn verfolgten, auch wenn er mit seinen Worten nur wenig verändern konnte. Brecht sagt ironisch, er hoffe, dass die Herrschenden ohne ihn sicherer sitzen würden. Dies zeigt wieder die Gewaltbereitschaft des Regimes, um die Macht zu erhalten und zu sichern. Brecht ist stolz einer ihrer Gegner zu sein.

Genau wie viele andere, wollte er den Nationalsozialismus bekämpfen. Die Aufständischen kannten zwar ihr Ziel, waren jedoch zu schwach um dieses zu erreichen. Besonders die Marxisten, zu denen Brecht zählte, glaubten, der Faschismus sei das Ergebnis eines todkranken Kapitalismus. Somit verbindet sich der Kampf gegen den Faschismus mit einer gewünschten sozialistischen Revolution.

Zuletzt (Zeile 55-74) appelliert er an die nachfolgenden Generationen um Verständnis für das Verhalten der Menschen. Die „Nachgeborenen“ sprechen von „den Schwächen“ (Zeile 58) der damaligen Bevölkerung, aber vergessen, dass diese von den Zwängen des Regimes geprägt war. Im Nationalsozialismus lebten die Menschen, wie Brecht im ersten Abschnitt beschreibt. Da sie zu schwach waren, konnten sie gegen die Gewaltherrschaft nichts unternehmen. Viele mussten fliehen, genauso wie Brecht es tat.
„Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd, durch die Kriege der Klassen“ (Zeile 61/2). Brecht bedauert also, dass er zur Flucht gezwungen war. Er lebte in vielen Ländern, die er immer wieder verlassen musste, weil sie von den Nationalsozialisten besetzt wurden. Erst 1940 ging er in die USA. Anstelle von seiner Flucht, wünscht sich Brecht den Krieg der Klassen, also eine sozialistische Revolution in Deutschland. Leider gab es zu wenig Widerstand gegen die Ungerechtigkeit des NS-Regimes.

Im weiteren Verlauf ist die Definition von Weisheit, die im ersten Abschnitt gegeben wurde, von Bedeutung. Laut der alten Werte bedeutet Weisheit Menschlichkeit, Frieden und ein tugendhaftes Leben. Jetzt erklärt Brecht, dass die Widerständler das System ebenfalls nur mit Gewalt bekämpfen konnten, denn „Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge“ (Zeile 65/6) und „die wir den Boden bereiten wollten für Freundschaft, konnten selbst nicht freundlich sein“ (Zeile 69/70). Zorn über das System verändert die Psyche des Menschen, sodass diese Gewalt nur noch mit Gewalt beantworten können.

Für dies alles sollen die Nachgeborenen Verständnis haben. Sie leben in einer anderen Gesellschaft, die nicht so grausam und unmenschlich ist wie das Dritte Reich, daher können sie sich gegenseitig unterstützen, also „der Mensch dem Menschen ein Helfer“ (Zeile 72) sein. Dies ist die sozialistische Gesellschaftsform, die Brecht sich wünscht. In ihr gelten Menschlichkeit und Gerechtigkeit und da die angesprochene Generation unter diesen Umständen aufgewachsen ist, kann sie das Verhalten ihrer Vorfahren nicht verstehen und verurteilt es. Brecht rechtfertigt die angewandte Gewalt der Widerstandsbewegungen gegen die Nationalsozialisten.

Stilmittel

Das Gedicht weist einige Stilmittel auf. Alle Abschnitte, bis auf den ersten, enthalten vier Strophen, die wiederum aus verschieden vielen Versen bestehen. Die fünfte Strophe des ersten Teils steht für sich, da sie sich stilistisch und inhaltlich von den vorherigen unterscheidet. Ein Reimschema ist nicht vorhanden.

Im ersten Abschnitt betont Brecht am Anfang der ersten vier Strophen die finsteren Zeiten mit Ausdrücken wie „wirklich“ (Zeile 1) oder „es ist wahr“ (Zeile 12). Er stellt rhetorische Fragen, zum Beispiel „was sind das für Zeiten“ (Zeile 6) um den Leser auf die Ungerechtigkeit des Systems aufmerksam zu machen. Der Satz „so verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war“ ist charakteristisch für den zweiten Abschnitt, denn er ist am Ende jeder Strophe zu finden. Brecht beschreibt hier sein Leben.
Insgesamt sind im Gedicht viele Symbole zu finden. Die „finsteren Zeiten“ (Zeile 1) stehen für das nationalsozialistische Dritte Reich. Die „Zeit der Unordnung“ (Zeile 31) symbolisiert den Ersten Weltkrieg. Und „ihr, die auftauchen werdet aus der Flut“ (Zeile 56) steht für die Generationen, die nach dem NS-Regime geboren werden. Brecht betont einige Forderungen besonders, zum Beispiel den Grund für seinen Appell an die Nachwelt und die ausweglose Situation im Nationalsozialismus.

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