Wolfenstein, Alfred - Städter (Interpretation)

Schlagwörter:
Alfred Wolfenstein, Gedichtinterpretation, Analyse, Stilmittel, Referat, Hausaufgabe, Wolfenstein, Alfred - Städter (Interpretation)
Themengleiche Dokumente anzeigen

Referat

Städter ­von Alfred Wolfenstein // Interpretation

Städter
von Alfred Wolfenstein

Nah wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.
 
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
Und Begierde ineinanderragt.
 
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
10 
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
11 
Flüstern dringt hinüber wie Gegröle
 
12 
Und wie stumm in abgeschloßner Höhle
13 
Unberührt und ungeschaut
14 
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.

(„Städter“ von Alfred Wolfenstein ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (24 KB) zur Unterstützung an.)

Das Gedicht Städter ist ein Sonett in der Form abba, wobei der bb - Reim teilweise unrein ist. Das Sonett wurde für das Metrum Trochäus verfasst. Es wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom deutschen, expressionistischen Schriftsteller Alfred Wolfenstein 1919 geschrieben. Alfred Wolfenstein wurde als Sohn des jüdischen Kaufmanns Heymann Wolfenstein und seiner Frau Klara Wolfenstein, geb. Latz in Halle (Saale) geboren und wuchs dort sowie ab 1889 in Dessau auf. Nachdem er den Vater früh verloren hatte, musste er aus finanziellen Gründen seine Schullaufbahn kurzzeitig für eine Ausbildung im Holzhandel unterbrechen, setzte sie jedoch ab 1901 am Askanischen Gymnasium in Berlin fort. Alfred Wolfenstein lebte von 1888 bis 1945 und promovierte in Rechtswissenschaften und war zeitweise Rechtsreferendar in Berlin.

Das expressionistische Gedicht „Städter“ (1914) von Alfred Wolfenstein behandelt das Thema Großstadt-Anonymität und -Einsamkeit. Es geht um Emotionen, die in der Stadt vernachlässigt werden und die Transparenz, die die Einwohner zeigen, um sich dem Umfeld anzupassen. Es gibt weder große nennenswerte Freundschaften, noch das Gefühl so akzeptiert zu werden, wie man tatsächlich ist. Den Leuten fehlt etwas und diese Atmosphäre stellt der Verfasser des Gedichts meines Erachtens sehr gut mit dem Enjambement (oder Zeilensprung) und dem Metrum Trochäus dar. Beim Zeilensprung am Ende des Verses kommt es dem Leser so vor, als hätte der Autor etwas Wichtiges vergessen und der Trochäus lässt sich ebenfalls nicht leicht lesen. Zusätzlich kommen die Unreinheiten im bb – Reim. Im Sonett werden die Menschen über das Stadtbild beschrieben, weil diese Begriffe indirekt zusammenhängen.

In der ersten Strophe wird die Menschenmenge durch die dicht gebauten Häuser beschrieben. Die Fenster der Häuser sind so dicht beisammen, dass sie scheinbar absichtlich zum Nachbarn sehen wollen. Diese Metapher zeigt wiederum die Durchlässigkeit auf die gedrängt wird und doch auch Anonymität, weil es ja trotzdem Fenster, gemeint Wände, gibt. Die Häuser sind mit Straßen verbunden und das Straßennetz ist so eng wie in einem Sieb (vgl. 1,2). Der breite, graue Baustoff (vielleicht Asphalt) lässt das ganze Stadtbild wie „Gewürgtes“ erscheinen (Z. 3,4). Die negativen Wörter wie grau, geschwollen oder Gewürgtes stellt Wolfenstein in einen Vers um eine betonende Alliteration zu erzeugt.

Die zweite Strophe zeigt zum ersten Mal die Menschen. Es wird von dichten Menschenmengen erzählt, die wie Dinge mit der Straßenbahn fahren. Sie sehen sich zwar an denn „ihre nahen Blicke baden“ (Z. 7), aber sie tragen es mehr aus als eine Konversation zu starten oder es zu genießen. Die Alliteration und Personifikation „Blicke baden“ lässt diesen Vers besonders monoton wirken. Der Alltag und die regelmäßigen Aktivitäten holen die Menschen mit ihren Emotionen ein. Die Welt wirkt grau und gleich, wie in der ersten Strophe schon beschrieben wurde. Die doppelte Verwendung des Wortes „ineinander“ zeigt noch mal die Dichte Masse der Menschen und trotzdem die Anonymität des Stadtlebens.

Das lyrische Ich gibt sich erst in Strophe drei aus. In dieser Strophe nimmt Wolfenstein den Leser mit auf eine nachdenkliche Gedankenfahrt. Er spricht den Leser mit dem Wir an. „Unsre Wände sind so dünn wie Haut“ schreibt er in Zeile neun. Darunter ist zu verstehen, dass man in den Körper hineinsehen kann. Man kann „das Innenleben des Körpers“ sehen und die Menschen dürfen keinerlei Privatsphäre haben. Alles sollte für die Außenstehenden sichtbar sein, ob sie wollen oder nicht. Dieser Drang entsteht dadurch, dass die Menschen einander gegenseitig durch die Öffentlichkeit und Sicherheit unter Druck setzen. Der Mensch sieht sich in den nächsten Versen (Z.10,11) gezwungen, seine Emotionen mit Allen zu teilen. Er kann sich keine eigene Ansicht der Welt schaffen und sich nicht mit sich selbst beschäftigen. Alles, was er flüstert oder denkt, wird sofort zum Gesprächsstoff und gegen ihn verwendet. Es herrscht Gruppen- bzw. Massenzwang.

Die letzte und vierte Strophe des Sonetts verdeutlicht das entstandene Gefühl. Jeder verspürt Einsamkeit, weil kein Mensch so akzeptiert wird wie er ist. Doch niemand spricht über diese Empfindung. Die Bewohner stehen einander nicht nah und fordern doch etwas vom Anderen. Niemand wird richtig betrachtet oder kommt dem Gegenüber näher. Diese Gleichheit des Gefühl eines Jeden wird zum Schluss nochmals aufgefasst und durch die Alliterationen in Zeile 13 und 14 verdeutlicht.

Anmerkungen zu genutzten Stilmitteln

  1. Enjambement: Zeilensprünge. Ein Satz wird hier häufig gegen die Logik des Lesers mittendrin umgebrochen und auf zwei Verse verteilt. Je nach Kontext und Art der Umbrechung kann der Satz damit abgehackt (da man wegen der Unlogik zu Gedanken- und Sprechpausen gezwungen wird) oder auch temporeich wirken.
  2. Alliteration: Bei der Alliteration beginnen mehrere Worte mit dem gleichen Anfangslaut.
  3. Hakenstil: Wenn ein Gedicht größtenteils oder vollständig aus Enjambements besteht, liegt ein Hakenstil vor. Der Hakenstil findet man z. B. in Alfred Wolfensteins „Städter“ oder in Georg Trakls „Grodek“.
  4. Sonett: Ein Sonett besteht aus zwei Quartetten (zwei Strophen mit jeweils vier Versen) und zwei Terzetten (zwei Strophen mit jeweils drei Versen). Das Sonett ist eine Gedichtform, die häufiger im Expressionismus anzutreffen ist. Zwischen den Quartetten und Terzetten gibt es meist einen inhaltlichen Einschnitt.
  5. Zäsur: ist ein (inhaltlicher) Einschnitt
  6. konstatieren: etwas abschließend feststellen oder festhalten
  7. Antithese: Gegenüberstellung von Gegensätzen; Behauptungen, die sich scheinbar widersprechen.
Zurück