Dürrenmatt, Friedrich - Der Besuch der alten Dame (Szeneninterpretation)

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Referat

Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“ Thema 1 (Szeneninterpretation)

Aufgaben an Hand der Textstelle S.37 oben bis S.40:

  • Ordnen Sie die Textstelle in den Handlungszusammenhang ein.
  • Untersuchen Sie den Gesprächsverlauf in diesem Ausschnitt im Hinblick auf Strategie und Motive von Ill und Claire.

Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“, die 1956 uraufgeführt wurde, thematisiert mit der Protagonistin Claire Zachanassian die Korrumpierbarkeit von Menschen und ihrer ideellen Werte. Dürrenmatt steigert diese Thematik bis ins Groteske hinein. Friedrich Dürrenmatt (5. Januar 1921 - 14. Dezember 1990) war ein Schweizer Autor und Dramatiker. Er war ein Verfechter des epischen Theaters, dessen Stücke die jüngsten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs widerspiegeln. Zu den Werken des politisch aktiven Autors gehörten avantgardistische Dramen, philosophische Krimis und makabre Satire. Dürrenmatt war Mitglied der Gruppe Olten. Mit dem Werk „Der Besuch der alten Dame“ greift Dürrenmatt wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entwicklungen der 1950er-Jahre auf: moralische Werte werden zugunsten des Konsums geopfert.

Nach etlichen Jahren kehrt die reiche Claire Zachanassian, ehemals Klara Wäscher, Bürgerin in Güllen, in ihre heruntergekommene Kleinstadt zurück. Im verarmten Dorf warten die Güllener auf den Besuch der Milliardärin Claire Zachanassian. Von ihr erhofft man sich finanzielle Unterstützung. Der Krämer Ill, ein Jugendfreund der Claire Zachanassian soll ihr Geld entlocken, indem er durch die Erinnerung an ihre vormalige Beziehung den Weg für eine Spende ebnet. Ill hatte Claire einst geschwängert, seine Vaterschaft vor Gericht aber bestritten und aus materiellen Gründen seine Frau Mathilde Blumhard geheiratet. Ill ist in der Stadt eine der beliebtesten Persönlichkeiten und gilt als Nachfolger des Bürgermeisters

Am heruntergekommenen Bahnhof der Kleinstadt Güllen warten die Bürger bereits auf die Ankunft der Claire Zachanassian. Nachdem Claire am Bahnhof in Güllen empfangen wurde, wo die Bürger durch psychologisch geschicktes Vorgehen versuchten, an ihre Wohltätigkeit zu appellieren, begibt sie sich gemeinsam mit Ill auf einen Spaziergang durch das Dorf. Die unerwartet frühe Ankunft der Claire lässt den Empfang scheitern. Der überraschende Einfall der Milliardärin in Güllen markiert einen Einschnitt im ersten Akt. Ill glaubt, er habe sie im Sack, wenn sie sich wie früher „Wildkätzchen“ oder „schwarzer Panther“ nennen. Doch zynisch zerstört Claire die liebliche Illusion an die Vergangenheit und gegenwärtige Hoffnungen.

In den Begegnungen mit den Amtsvertretern der Stadt, dem Arzt, dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Turner erweisen sich Claires komischen Kommentare als Vorausdeutungen auf Ills Tod, was sich aber erst im Rückblick erkennen lässt. Ill selbst begegnet den Äußerungen der alten Dame humorvoll und lacht. Es folgt ein Zug von Personen, Claires Gefolge, die viele Koffer und einen schwarzen Panther in die Stadt bringen. „Seltsam“ (S.33) finden die Bürger, dass Claire einen Sarg mit sich trägt. Im Goldenen Apostel sitzen die Vertreter der Gemeinde beisammen und beobachten den Koffertransport und reflektieren das Geschehen. In der kurzen Zwischenszene im Wirtshaus kommentieren die das Auftreten und Verhalten der Milliardärin. Dabei sind sie fest davon überzeugt, dass sich alles bald zum Besseren wenden werde, da Ill Claire „schon im Sack habe“.

Der Leser verfolgt Claire und Ill, die sich auf den Weg in den Konradsweilerwald machen. Ihr Gefolge, Roby, Toby, Moby und Koby, deren „Visagen [sie] nicht immer sehen [mag]“ (S.36), schickt sie fort, um die Einsamkeit mit Ill zu genießen. An dieser Stelle setzt der gegebene Textauszug ein. Bemerkenswert ist, dass es die Güllener Bürger sind, die den Wald bilden. Während einer „ein großes Kartonherz umgehängt mit den Buchstaben AK“ (S.35) trägt, stellen der erste bis zum vierten Bäume und Büsche dar. Dadurch wird eine verklärte Erinnerung unmöglich gemacht. Gerade an einem der alten Liebesnester wollen Claire und Ill noch einmal in alten Erinnerungen schwärmen.

Durch das Auftreten der Bürger Güllens als Formation des Waldes entsteht eine Distanz zum Bühnengeschehen. Durch die beabsichtigte Verfremdung wirkt die Szene lächerlich und komisch zugleich. Als eine Folge der scheinbaren Einsamkeit, ist auch die Erinnerung an die Vergangenheit nüchtern. Während Claire beginnt von den alten Zeiten im Konradsweilerwald schwärmt, und davon erzählt wie sie sich im Alter von 17 und 20 Jahren „auf diesem Findling küßten“ (S.37), fällt das Gespräch schnell auf Ills Gemahlin Mathilde Blumhard, die Ill vor 45 Jahren Claire vorzog und sie zur Dirne machte. Claire erzählt davon, wie sie es zu ihrem Reichtum brachte: „Er [Öl-Milliardär Zachanassian aus Armenien] fand mich in einem Hamburger Bordell.“ Das damalige Urteil machte Claire zur Prostituierten. Angelockt von ihren roten Haaren beschloss er sie zu heiraten. Demgegenüber wirkt Ills Schicksal lächerlich und armselig: Die Milliardärin stellt ihrem Dasein als reiche Frau Ills Schicksal mit Mathilde und dem Krämerladen gegenüber.

Nach dieser für Claire untypisch langen Rede, verlangt sie sofort eine Zigarette. Hier tritt ihr Charakter als eine Dame, die dominant ist und ein „Macho-Verhalten“ an den Tag legt, deutlich hervor. Ihr Verhalten ist im Vergleich zum typischen Rollenbild der Frau der damaligen Zeit ungewöhnlich. Sie weist einen männlichen Habitus auf. Ihr Lebensstil gilt als sozial abweichend und lässt sich nicht vergleichen mit den gesellschaftlichen Normvorstellungen der Frau. Dies gilt besonders für ihre Existenz als Prostituierte. Der Verkauf Claires Körper erweist sich als eine grundlegende Lebenserfahrung: in ihren Augen ist alles käuflich, selbst die Gerechtigkeit. Käuflichkeit ist zu ihrem Lebensprinzip geworden, denn sie glaubt ideelle Werte könne man kaufen.

Ill entgegnet Claire er habe ihr zuliebe Mathilde Blumhard geheiratet (vgl. S.37). Er habe ihrem Glück nicht im Weg stehen wollen. Harsch kontert Claire mit dem Verweis auf Mathildes damalige finanzielle Situation: „Sie hatte Geld.“ (S. 37). Und tatsächlich war es Ills einzige Absicht in den Besitz des Krämerladens zu kommen. Ill versucht Claire davon überzeugen, dass er zu ihrem Wohlwollen sie damals alleine zurückließ, indem er beschriebt, dass er ruiniert und unglücklich geworden ist, seit sie vor mehr als 40 Jahren getrennte Wege gingen: „Ich lebe in einer Hölle, seit du von mir gegangen bist“ (S. 38). Ill versucht auf diese Art und Weise Claire zu schmeicheln, er unterwirft sich ihr. Dabei war es nicht Claire, die Ill verließ, sondern es war Ill, der von ihr gegangen war. Außerdem war die Trennung ein bewusster Akt des Verrats an Claire.

Außerdem gesteht Ill, seine Frau habe ihn nicht glücklich gemacht, genauso seine Kinder „Ohne Sinn für Ideale.“ (S.38) Mit der Heirat Mathilde Blumhards bleibt Ill sein Leben lang gefangen im Städtchen Güllen und muss sich mit seinem kleinbürgerlichen Leben zufrieden geben. Claire versichert ihm, dass dieser Sinn Ills Kindern „schon aufgehen“ (S. 38) werde. Auch dieser prophetische Kommentar stellt sich nach Lektüre des Stücks als Vorausdeutung auf Ills Tod heraus. Während Ill versucht Mitleid bei der alten Dame für sein eigenes und der Stadt Güllens Schicksal zu erregen, nimmt Claire die Angelegenheit locker, was ihre Antworten deutlich machen : „Gewiß“ (S.38), „Wenig“ (S.39). Hineingesteigert in seine Rolle und begeistert von Claires Sinn für Wohltätigkeit, steigert sich Claire in seine Rolle hinein. Doch das Wiederaufleben der Liebe misslingt, als er Claire „gerührt auf ihren linken Schenkel [schlägt] und [zieht] die Hand schmererfüllt [zurückzieht]“ (S.39).

Er muss erfahren, dass es sich bei Claires Bein um eine Prothese handelt. Nach einem kleinen Einschub, in dem sich das ehemalige Jugendpaar der Schönheit der Natur widmet, kommt Ill wieder auf das Thema und bedauert in einem Art Schuldspruch, dass das Leben die beiden trennte (vgl. S.39). Er beteuert Claire seine Liebe und „küßt ihre rechte Hand“ (S.39), die sich ebenfalls eine Prothese herausstellt. Dabei kommt ihrer Handprothese aus Elfenbein besondere Bedeutungskraft zu: Elfenbein steht für Reichtum und Animalität, zwei Dinge, die Claire Zachanassian in sich vereinigt.

Die Deformation der Claire Zachanassian spielt auch auf ihre seelische und innere Deformation an. Sie ist eine zusammengesetzte Figur. Das groteske Nebeneinander von menschlichen Körperteilen und Prothesen steigert diese Ansicht. Durch einen Autounfall und eine Flugzeugabsturz ist Claire grotesk entstellt. Dabei fällt auf, dass Claire Zachanassian sowohl links, als auch rechts betroffen ist. Damit wollte der Autor Dürrenmatt die ganzheitliche Deformation Claires unterstreichen. Doch diese Prothesen schränken sie überhaupt nicht ein, denn sie hat Geld. Mit ihrer Stellung als Multimilliardärin kann sie ihre Verformungen überspielen und ausgleichen. Schließlich erfüllt ihr Gefolge die Aufgaben zu denen sie nicht in der Lage ist. Schon ihr äußeres Erscheinungsbild ist abnormal. Dies spiegelt auch ihren abnormalen Seelenzustand und ihre verkrampfte und fixierte Einstellung zu ihrer Jugendliebe Ill. Wie sich später herausstellen wird, wir die Milliardärin an ihrer Forderung nach Gerechtigkeit durch den Mord an Ill festhalten. Sie will unbedingt Rache nehmen an Ill und ihrer ehemaligen Heimatstadt Güllen.

In diesem Zusammenhang rückt auch Claires Gefühlskälte in den Vordergrund. Mit dem Absterben ihrer Körperteile und den Ersatz durch Prothesen verliert sie an Emotionen und Einfühlungsvermögen. Doch diese Gefühlskälte findet sich ebenso in Claires Sprache, die es genauer Betrachtung bedarf. Auch ihre Sprache ist eine deformierte: bis auf wenige Ausnahmen spricht Claire ohne weite Schmückungen ihrer Reden. Sie spricht in kurzen, sogar unvollständigen Sätzen. Einfache Hauptsätze, Ellipsen und Parataxen ihr lapidares Wesen. Schließlich hat sie es nicht nötig Menschen zu überreden oder zu schmeicheln, denn mit ihrem Geld kann sie alles möglich machen. Die Sprache dient bei Claire nur noch der Informationsvermittlung. Ihre Aussagen sind im Vergleich zu Ills Aussagen gekennzeichnet von Direktheit und durch das offene Ansprechen von Wahrheiten oder Doppeldeutigkeiten. Immer dann, wenn Ill auf Claires Absichten und Pläne zu sprechen kommt, erweisen sich Claires Antworten als doppeldeutig, die, wie sich dann nach weiterer Lektüre des Stücks erweist, Vorausdeutungen darstellen, die für den Verlauf des Stücks von Bedeutung sind. Der einzige, der von alldem noch nichts versteht und Claires Aussagen nicht zu deuten weiß, scheint Ill zu sein (Bsp. „Nun wird sich alles ändern.“ Claire Zachanassian: „Gewiß“ (S.38)). Ill glaubt, alles werde sich durch die Spende zum Guten ändern, er weiß nicht, dass das Geschehen in einem Desaster sein Ende finden wird. Hier findet sich die Mehrdeutigkeit in der Sprache der Zachanassian. Ill missversteht die Milliardärin, weil er ihre Bemerkungen nur von seiner beschränkten Sicht aus interpretiert.

Während Ill sich zu Beginn des Stücks als positiv denkend erweist und wegen der Vaterschaftsklage aus dem Jahr 1910 keinerlei Gewissensbisse hat wegen seines Verhaltens, wandelt sich diese Einstellung. Bisher war es für ihn nie ein Problem mit dieser Schuld zu leben. Dabei hatte er sie für Geld verraten und mit mehr Geld will Claire nun Rache nehmen, was sie Ill erst später im Stück gesteht. Noch vertraut er in Claire und glaubt daran, dass sie Güllen niemals im Stich lassen werde. In Ills Aussagen lässt sich die Übertreibung und Umdeutung der Wahrheit heraus lesen: „Hätte uns doch das Leben nicht getrennt.“ (S.39). Damit erfährt der Leser an dieser Stelle nicht den wahrhaftigen Trennungsgrund, wo doch die Liebe durch die beiden als romantisch wiedergegeben wird. Dabei gaukelt er ihr eine fortgesetzte Liebe vor: „ Ich liebe dich doch!“ (S.39). In diesem Satz sind Ills Lügen alle auf Indem Ill auf seine Armut verweist, soll der Eindruck entstehen, er habe ihretwegen diesen leidenden Weg eingeschlagen, um ihr Besseres ermöglichen zu können. In dieser Szene ist Ills Fähigkeit der Verstellung und Umdeutung, sowie Lüge perfekt ausgereift.

Letztendlich ist das gesamte Gespräch davon bestimmt, dass Ill versuchen will und soll, Claire dazu zu überreden die Stadt mit einer Finanzspritze zu unterstützen. Das Problem ist jedoch, dass er seinem Verhalten in der Vergangenheit eine völlig neue Bedeutung beimessen muss, um Claire für sich gewinnen zu können. Auch Claire offenbart noch nicht ihren Plan. In diesem ersten Gespräch Ills mit Claire im Konradsweilerwald wird Ils Ahnungslosigkeit offenbart. Er glaubt tatsächlich mit seinen Schmeicheleien und Lügen Claire im positiven Sinne beeinflussen zu können. Ill, der sich einfältig von seinen Illusionen blenden lässt und die Lüge als Mittel einsetzt, erliegt lange Zeit der Selbsttäuschung, insofern er sich einredet, die Stadt stehe zu ihm.

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