Deine Welt von Kurt Tucholsky
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Trudele dahin! Verkehre bei Ingenieuren! |
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Laß dich als Redakteur von Staatsanwälten verhören! |
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Sei eingeladen bei Snobs, die wichtigtuende Diplomaten |
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schnurrend umschleichen, besonders die aus den kleinern Staaten! |
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Entflieh der Familie! Rutsch die soziale Leiter hinauf und hinab –: |
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es spielt sich alles unter zweihundert Menschen ab. |
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Wohn an der Weser, der Oder, der Weichsel, der Elbe – |
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deine Gesellschaft bleibt immer, immer dieselbe. |
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Immer dieselben Fahrt- und Leidensgenossen, |
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wie mit Gittern sind dir die andern Gärten verschlossen. |
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Freunde sind Schicksal, aber nicht zu knapp. |
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Es spielt sich alles unter zweihundert Menschen ab. |
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Fahr nach Amerika! |
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Wer steht im Hotel auf den Herrentoiletten? |
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Rosenfeld. Und er spricht: „Was machen Sie in Manhattan?“ |
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Flieh zu den Eskimos, in des Eises kreischende Masse: |
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der Dicke im Pelz ist bestimmt ein Kind deiner Klasse. |
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Jag durch die Welt vom nördlichen bis zum südlichen Kap –: |
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es spielt sich alles unter zweihundert Menschen ab. |
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Unsere Welt ist so klein. Dies mußt du wissen: |
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Ganze Klassen und Völker sind nur deines Lebens Kulissen; |
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du weißt, daß sie sind. Aber sei nicht verwundert: |
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du lebst ja doch nur inmitten deiner zweihundert. |
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Und hörst du auch fremde Länder und Kontinente erklingen: |
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du kannst ja gar nicht aus deinem Kreise springen! |
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Von Stund an, wo sie dich pudern, bis zum gemieteten Grab |
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spielt sich alles und alles und alles unter zweihundert Menschen ab. |
Details zum Gedicht „Deine Welt“
Kurt Tucholsky
4
27
221
1929
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Deine Welt“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Journalisten und Schriftsteller, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky war bekannt für seine satirischen und gesellschaftskritischen Werke, die sich häufig auf das Leben im Deutschland der Weimarer Republik bezogen.
Der erste Eindruck des Gedichts ist, dass es sich wie eine soziale Kritik oder Reflexion liest, die sich mit Themen wie Lebensumständen, sozialen Netzwerken und der allgemeinen Begrenztheit unserer persönlichen Welten beschäftigt.
Im Inhalt beschreibt das lyrische Ich verschiedene Lebensszenarien und Veranstaltungen, die durch die ständige Präsenz der gleichen Menschen charakterisiert sind. Unabhängig von den untersuchten sozialen Umständen oder geografischen Standorten scheint das lyrische Ich ständig von den gleichen zweihundert Menschen umgeben zu sein. Es handelt sich hierbei um eine metaphorische Darstellung des soziokulturellen Zustands, indem es die Einschränkungen unserer sozialen Kreise und die Unfähigkeit, aus ihnen herauszutreten, thematisiert.
Aus der formalen Sicht ist das Gedicht in vier Strophen gegliedert, die jeweils sechs bis acht Verse enthalten. Die Verse sind in einem direkten, gesprächigen Ton verfasst, als ob das lyrische Ich dem Leser direkt Ratschläge geben würde. Zudem greift Tucholsky auf Alliterationen („Trudele dahin!“) und gelegentliche Reime (besonders in den Schlusszeilen jeder Strophe) zurück, um Rhythmus und Schwerpunkt zu erzeugen.
In Bezug auf die Sprache verwendet Tucholsky klare und einfache Worte, fasst jedoch komplexe Ideen in einprägsamen Redewendungen zusammen („Es spielt sich alles unter zweihundert Menschen ab“). Dieser Stil führt dazu, dass das Gedicht zugänglich und leicht verständlich ist, obwohl es tiefgreifende Themen behandelt.
Insgesamt ist „Deine Welt“ ein effektives Beispiel für Tucholskys Fähigkeit, soziale Kritik mit zugänglicher Poesie zu verbinden. Es stellt zudem eine Reflexion darüber dar, wie begrenzt unsere individuellen Welten trotz unserer Bemühungen, verschiedenartige Erfahrungen zu sammeln und neue Orte zu erkunden, tatsächlich sein können.
Weitere Informationen
Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Deine Welt“. Tucholsky wurde im Jahr 1890 in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1929 entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.
Der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik hatten großen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.
Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Autoren, die ins Exil gehen, also ihr Heimatland verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Epoche der Literatur. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).
Das 221 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 27 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere Werke des Dichters Kurt Tucholsky sind „Abschied von der Junggesellenzeit“, „Achtundvierzig“ und „All people on board!“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Deine Welt“ weitere 136 Gedichte vor.
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Zum Autor Kurt Tucholsky sind auf abi-pur.de 136 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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