Das scheue Wort von Joachim Ringelnatz

Es war ein scheues Wort.
Das war ausgesprochen
Und hatte sich sofort
Unter ein Sofa verkrochen.
 
Samstags, als Berta das Sofa klopfte,
Flog es in das linke, verstopfte
Ohr von Berta. Von da aus entkam es.
Ein Windstoß nahm es,
Trug es weit und dann hoch empor.
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Wo es sich in das halbe, bange
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Gedächtnis eines Piloten verlor.
 
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Fiel dann an einem Wiesenhange
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Auf eine umarmte Arbeiterin nieder,
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Trocknete deren Augenlider.
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Wobei ein Literat es erwischte
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Und, falsch belauscht,
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Eitel aufgebauscht,
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Mittags dann seichten Fressern auftischte.
 
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Und das arme, mißbrauchte,
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Zitternde scheue Wort
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Wanderte weiter und tauchte
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Wieder auf, hier und dort.
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Bis ein Dichter es sanft einträumte,
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Ihm ein stilles Palais einräumte. – –
 
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Kam aber sehr bald ein Parodist
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Mit geschäftlich sicherem Blick,
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Tauchte das Wort mit Speichel und Mist
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In einen Aufguß gestohlner Musik.
 
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So ward es publik.
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So wurde es volkstümlich laut.
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Und doch nur sein Äußeres, seine Haut,
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Das Klangliche und das Reimliche.
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Denn das Innerste, Heimliche
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An ihm war weder lauschend noch lesend
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Erreichbar, blieb öffentlich abwesend.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Das scheue Wort“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
171
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts „Das scheue Wort“ ist Joachim Ringelnatz, ein deutscher Schriftsteller, der von 1883 bis 1934 lebte. Seine kreative Schaffensperiode fällt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit von rasanten gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Veränderungen.

Bei der ersten Lektüre fällt der spielerische und humorvolle Umgang mit der Sprache auf, der für Ringelnatz charakteristisch ist. Er personifiziert „Das scheue Wort“, das auf eine abenteuerliche Reise geht, bevor es letztendlich von einem Dichter sanft „einträumt“ wird. Diese Reise symbolisiert den komplexen Prozess der Bedeutungszuschreibung in der Kommunikation und Literatur.

Inhaltlich folgt das Gedicht der symbolischen Reise eines Wortes, das zunächst ausgesprochen wird und sich dann versteckt. Es reist von Ort zu Ort und von Person zu Person, wobei jede Station eine andere Aneignung und Verwendung des Wortes darstellt. Dies könnte verdeutlichen, dass die Bedeutung eines Wortes nicht statisch und festgelegt ist, sondern sich verändert und transformiert, abhängig vom Kontext und von der interpretativen Aneignung.

Formal besteht das Gedicht aus sechs Strophen mit unterschiedlichen Längen und einer variierenden Anzahl von Versen. Die Sprache ist klar und unprätentiös und dennoch schafft es Ringelnatz, eine Vielzahl von atmosphärischen Bildern zu erzeugen. Er spielt mit Wörtern und ihrer Bedeutung, indem er das Wort als ein fast lebendes Wesen darstellt, das verschiedenste Abenteuer erlebt, bevor es in der Obhut eines Dichters landet.

Das Gedicht kann als Reflektion auf das Wesen der Sprache und Dichtung gesehen werden. Es thematisiert den Prozess des Schreibens und Interpretierens, indem es aufzeigt, dass die Bedeutung von Worten nicht fixiert ist, sondern sich im Gebrauch und in verschiedenen Kontexten verändert. Jedoch bleibt das Innerste, das Heimliche eines Wortes oft unerreichbar und geheimnisvoll. Es könnte auch als Kritik an der Banalisierung von Sprache und Poesie durch Kommerzialisierung und Plattheit gesehen werden. Es endet mit einer Ode an die Kraft des Dichters, der ein Wort sanft einträumen und ihm einen bedeutsamen Platz in der Poesie einräumen kann.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Das scheue Wort“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Ringelnatz wurde im Jahr 1883 in Wurzen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1929 zurück. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Der Schriftsteller Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 35 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 171 Worte. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Abendgebet einer erkälteten Negerin“, „Abermals in Zwickau“ und „Abgesehen von der Profitlüge“. Zum Autor des Gedichtes „Das scheue Wort“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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