Sie betrauert ihren Jesum von Angelus Silesius

1
O so hast du nun dein Leben
Für die Psyche hingegeben,
Jesu, meine Freud und Ruh!
Bist du nun für mich gestorben
Und hast mir das Heil erworben,
Du verwundte Liebe du!
 
2
Freilich ja, du bist gestorben,
10 
Daß du mir das Heil erworben,
11 
Liegest so elende tot!
12 
Nicht ein Atem ist zu spüren,
13 
Nicht ein Glied kannst du mehr rühren,
14 
Ach der unerhörten Not!
 
15 
3
16 
Deine Lippen sind verblichen
17 
Und dein Geist von dir gewichen,
18 
Alle Kräfte sind verzehrt.
19 
Alle Rosen deiner Wangen
20 
Sind verwelket und vergangen,
21 
Alle Schönheit ist verheert.
 
22 
4
23 
Dein erfreulich Angesichte
24 
Ist nun worden ganz zunichte,
25 
Deine Stirn ist ungestalt.
26 
Ja dein Augen, meine Sonnen,
27 
Sind verloschen und zerronnen,
28 
Alles ist verstarrt und kalt.
 
29 
5
30 
Ach, wo werd ich Feuer finden,
31 
Mich hinfüro anzuzünden
32 
In der ewgen Liebesbrunst!
33 
Wenn dein Augen, o mein Leben,
34 
Keine Funken von sich geben,
35 
Ist all unser Tun umsunst.
 
36 
6
37 
Ach, was soll ich weiter sagen?
38 
Du bist auch so gar zerschlagen,
39 
Daß mir Herz und Seele weint.
40 
Deine Schultern sind zerschmissen
41 
Und dein Haupt so sehr zerrissen,
42 
Daß es lauter Wunde scheint.
 
43 
7
44 
Du bist ganz mit Blut umflossen,
45 
Welches du für mich vergossen
46 
Aus dem tiefsten Lebensgrund.
47 
Alle Glieder sind zerrenket
48 
Und, was mehr mein Herze kränket,
49 
Dein verliebtes Herz ist wund.
 
50 
8
51 
O der Wunde! O des Schmerzens!
52 
O du Herze meines Herzens!
53 
O du Arznei meiner Pein!
54 
O, daß ich meins Herzens Leben
55 
Möchte haben hingegeben
56 
Und für dich verwundet sein!
 
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9
58 
Weil dirs aber so gefallen,
59 
Daß du Treuester vor allen
60 
Meinetwegen dies getan,
61 
Will auch ich mich zu dir strecken
62 
Und dein teures Blut auflecken,
63 
Weil mein Mund sich rühren kann.
 
64 
10
65 
Deine Wunden will ich küssen
66 
Und das liebste Herze grüßen,
67 
Wie ich immer kann und weiß.
68 
Deinen Leichnam will ich pflegen,
69 
Mit Gewürz und Myrrhn belegen
70 
Und ihn ehrn mit großem Fleiß.
 
71 
11
72 
Gib nur, wenn ich dich so küsse,
73 
Daß mir Seel und Geist zerfließe,
74 
Daß mein Herze werde weich.
75 
Daß der Balsam deiner Wunden
76 
Heile meiner Seelen Schrunden,
77 
Daß mein Geist dein Herz erreich.
 
78 
12
79 
Denn ich will mich, o mein Leben,
80 
In dein offnes Herz begeben
81 
Als den besten Felsenstein,
82 
Weil man vor dem Grimm der Höllen,
83 
Vor der Welt und ihren Wellen
84 
Kann darinnen sicher sein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.9 KB)

Details zum Gedicht „Sie betrauert ihren Jesum“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
84
Anzahl Wörter
367
Entstehungsjahr
1624 - 1677
Epoche
Barock

Gedicht-Analyse

Das zitierte Gedicht ist „Sie betrauert ihren Jesum“ von Angelus Silesius, einem deutschen Dichter und Mystiker der Barockzeit, geboren 1624 und verstorben 1677. Zusammen mit seiner religiösen Überzeugung stellt dieses Gedicht eine Glaubensdarstellung dar, die in der Barockliteratur typisch war.

Auf den ersten Eindruck ist es ein tiefgründiges und emotionales Gedicht, das die Klage und tiefe Trauer der Figur, wahrscheinlich einer Frau, über den Tod von Jesus ausdrückt. Sie bewundert und beklagt seinen Opfertod, reflektiert auf die physischen Auswirkungen seines Todes und drückt ihre tiefe Verehrung und Liebe für ihn aus.

Das lyrische Ich verarbeitet in dem Gedicht den Tod von Jesus Christus. Es drückt tiefe Trauer und Bestürzung über seinen Tod aus, bewundert aber zugleich das Opfer, das er für die Menschheit und insbesondere für das lyrische Ich gebracht hat. In den Versen wird dargestellt, wie Jesu Körper nach seinem Tod aussieht - blass, unbeweglich, kalt, blutüberströmt und voller Wunden. Die letzte Strophe drückt den Wunsch des lyrischen Ichs aus, ein Teil seines Herzens zu werden, was eine Metapher dafür ist, ganz in der Liebe Christi aufzugehen.

Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen mit jeweils sechs Versen. Der Stil und die Wortwahl sind charakteristisch für das Barockzeitalter, wo tiefe Gefühle und eine komplexe Symbolik einen bedeutenden Platz einnehmen. Es greift auf viele Metaphern und bildliche Darstellungen zurück und verwendet eine direkte, emotionale und manchmal fast dramatische Sprache, um seine Nachricht zu vermitteln. Das Gedicht setzt auch eine vertraute Kenntnis der christlichen Theologie voraus, insbesondere der Kreuzigung Christi.

Insgesamt ist Angelus Silesius' „Sie betrauert ihren Jesum“ ein tief bewegendes und komplexes barockes Gedicht, das den Tod Jesu Christi und dessen Auswirkungen auf das lyrische Ich thematisiert. Es ist ein intensives Ausdrucksmittel für Trauer, Bewunderung, Liebe und tiefe religiöse Überzeugung.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Sie betrauert ihren Jesum“ des Autors Angelus Silesius. 1624 wurde Silesius in Breslau geboren. In der Zeit von 1640 bis 1677 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Barock zugeordnet werden. Silesius ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Der Barock umfasst etwa den Zeitraum von 1600 bis 1720. Die Übersetzung des portugiesischen Begriffes „barocco“ lautet „unregelmäßig geformte Perle“. Die Literaturepoche des Barocks ist durch ein bedeutendes Ereignis geprägt, dem Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648. Durch die desaströsen sanitären Bedingungen konnten sich Infektionskrankheiten ausbreiten. Rund ein Drittel der Bevölkerung kamen durch den Krieg und grassierenden Seuchen, wie etwa der Pest, ums Leben. Durch die starke Verminderung der Bevölkerung erlahmte das wirtschaftliche Leben zunehmend. Die Autoren betrachteten in ihren Werken die Gegensätze in nahezu allen Lebensbereichen. Das wird auch als Antithetik bezeichnet. Thematisch folgten die Autoren der Antithetik und stellten in ihren Werken Gegensätze in den Vordergrund – etwa Jenseits und Diesseits, Schein und Sein oder Verfall und Blüte. Im Zeitalter des Barocks löste die deutsche Sprache das Lateinische ab. Die Autoren gehörten in der Regel dem Gelehrtenstand an: Akademiker, Theologen, Beamte und Adelige. Berühmte Autoren des Barocks sind beispielsweise Martin Opitz, Andreas Gryphius, Daniel Caspar von Lohenstein, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.

Das Gedicht besteht aus 84 Versen mit insgesamt 12 Strophen und umfasst dabei 367 Worte. Angelus Silesius ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Allerverliebteste, der Allerheiligste“, „Man achtet das Ewige nicht“ und „Der Mensch ist groß vor Gott“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Sie betrauert ihren Jesum“ weitere 1832 Gedichte vor.

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