Das Terrbarium von Joachim Ringelnatz

Das war meine Erfindung:
Vor allen Dingen muß man die Tiere lebendig pressen.
Anfangs kostet es Überwindung,
Aber schließlich wird nichts so heiß gekocht wie gegessen.
 
Die Presse muß mindestens sechs Quadratmeter messen.
 
Meine Anlage war ein technisches Wunder;
Riesensäle, um die getrockneten Bestien
Übersichtlich hübsch an der Wand zu befestigen.
 
Denn ein geplättetes Nashorn ist keine Flunder.
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Wegen der Dickhäuter und et cetera
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Brauchte ich selbstverständlich elektrische Kraft. –
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Doch ich speiste mit dem herausfließenden Saft
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Sämtliche Waisenkinder von Zentralamerika.
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Ganz abgesehen von der Naturwissenschaft.
 
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Manches läßt sich nicht beim erstenmal schaffen.
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Oftmals zappelt und zuckt noch der Hals,
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Wenn der Unterkörper schon platt ist, so bei den Giraffen.
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Und ich besinne mich eines noch schwereren Falls.
 
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Um meine Sammlung zu komplettieren,
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Wollte ich auch einen Menschen so präparieren.
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Jene Miß Hamsy, die ich dazu erkor,
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War eine ernste, wohlgebaute Mulattin,
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Leichthin sommersprossig und Zollwächters Gattin.
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Und der setzte ich Arak mit Blumenkohl vor,
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Sagte, das sei Barbarossas Lieblingsgericht,
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Las ihr zwei Novellen von Freiherrn v. Schlicht.
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Bis sie langsam das Bewußtsein verlor.
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Als ich sie dann im Dunkeln entkleidet hatte,
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Legte ich sie behutsam tastend auf die untere Platte,
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Kurbelte an. Doch sie erwachte dabei.
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Aber ich suchte sie taktvoll bescheiden zu trösten:
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Wieviel schlimmer es wäre, lebendig zu rösten,
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Und daß die Presse nicht zu umgehen sei.
 
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Nichts stimmt trauriger als ein menschlicher Todesschrei.
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Aber was bedeutet solch kurzer Ton
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Gegen die furchtbaren Greuel der Vivisektion!
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Und wie Miß Hamsy dann an der Wand die vierte
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Halle für Säugetiere und Eidechsen zierte,
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Hat ihr Anblick jeden Besucher gebannt.
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Die Kritiken hörten nicht auf sie zu loben.
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Bis sich schließlich die Popolaca erhoben.
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Diese Indianer haben das ganze Museum niedergebrannt.
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Alles haben mir diese Schweine gestohlen.
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Aus Miß Hamsy schnitten sie Mokassinsohlen.
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Was ein Barbar ist, hat weder Kultur noch Geschmack.
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Aber einen von ihnen erwischte ich später,
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Kochte ihn lebend mit Kienharz und Wasserstoff-Äther.
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Und den Kerl verbrauche ich heute als Siegellack.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.7 KB)

Details zum Gedicht „Das Terrbarium“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
324
Entstehungsjahr
1924
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Terrbarium“ wurde von dem deutschen Schriftsteller und Kabarettist Joachim Ringelnatz verfasst, der von 1883 bis 1934 lebte. Ringelnatz zählt zur Epoche der Expressionisten und modernen Literatur, was sich auch in diesem Gedicht bemerkbar macht.

Beim ersten Lesen kann das Gedicht einen eher verstörenden Eindruck hinterlassen, da es in humorvoll grotesker Art und Weise das Lebendpressen von Tieren und Menschen beschreibt. Der Inhalt ist klar: der Erzähler des Gedichts erzählt von seiner skurrilen 'Erfindung', nämlich einer Maschine, die Tiere (und in einem besonders verstörenden Abschnitt sogar eine Frau) lebend presst und ausstellt. Die gleiche Methode, die er zur Konservierung von Tieren verwendet, wendet er auch auf einen Menschen an und verewigt sie so in seiner Sammlung. Durch diese absonderliche Vorstellung erzeugt Ringelnatz eine Abscheu und Erschütterung beim Leser.

Die Aussage des lyrischen Ichs drückt eine grausame Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer Organismen, seien es Tiere oder Menschen, aus. Es handelt nach einer eigenen, verdrehten Logik und zeigt eine emotionale Entfremdung von der Realität, wie sie in solch extremen Ausformungen nur in der Literatur möglich ist. Dies könnte auch eine Kritik Ringelnatz' an der wissenschaftlichen Ausbeutung und Sinnlosigkeit von Tierversuchen sein, als auch ein Kommentar zu der Emotionslosigkeit, mit der wir oft mit dem Leid anderer Lebewesen umgehen.

Untersucht man die Form und Sprache des Gedichts, erkennt man den typischen, sarkastischen und schwarzen Humor Ringelnatz'. Die Verse sind in freier Form geschrieben und verdeutlichen durch ihren abgehackten und teils erzählerischen Stil den wahnsinnigen Charakter des Sprechers. Auch die Wortwahl trägt zu dem unbehaglichen Gefühl bei, das das Gedicht hinterlässt.

Insgesamt ist „Das Terrbarium“ ein provokantes und abschreckendes Gedicht, das Kritik an der Ausbeutung von Tieren und Menschen übt und auf eine entfremdende Art und Weise das Verhältnis von Mensch zur Natur hinterfragt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Das Terrbarium“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Ringelnatz wurde im Jahr 1883 in Wurzen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1924. Erschienen ist der Text in München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das 324 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Die Gedichte „Abendgebet einer erkälteten Negerin“, „Abermals in Zwickau“ und „Abgesehen von der Profitlüge“ sind weitere Werke des Autors Joachim Ringelnatz. Zum Autor des Gedichtes „Das Terrbarium“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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